Sonderkündigungsschutz und Massenentlassungsanzeige – Faktische Diskriminierung wegen Elternzeit?

Geschrieben von

ralph panzer module
Dr. Ralph Panzer

Partner
Deutschland

Als Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner in unserem Münchner Büro berate ich gemeinsam mit meinem Team nationale und internationale Mandanten auf dem gesamten Gebiet des Individual- und Kollektivarbeitsrechts, häufig grenzüberschreitend.

BVerfG, Beschluss vom 08.06.2016 – 1 BvR 3634/13
BAG, Urteil vom 26.01.2017 – 6 AZR 442/16

Neues zu Massenentlassung und Elternzeit – Bereits der Entschluss der Kündigung von Elternzeitlern und sonstigen vergleichbar Geschützten soll jetzt anzeigepflichtig sein. Damit beugt sich das BAG einer interessanten Auffassung des BVerfG.

Sachverhalt
Die Klägerin war als Mitglied des Bodenpersonals bei der Beklagten beschäftigt. Die Beklagte legte den Betrieb still. Nachdem sie der Arbeitsagentur die nach § 17 KSchG erforderliche Massenentlassungsanzeige erstattet hat, kündigte sie im Dezember 2009 und im darauffolgenden Monat die Arbeitsverhältnisse aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ohne Sonderkündigungsschutz. Die Klägerin befand sich zu diesem Zeitpunkt in Elternzeit und erhielt keine Kündigung. Die Beklagte beantragte bei der obersten Landesbehörde die für die Kündigung der Klägerin erforderliche Genehmigung, das Arbeitsverhältnis trotz ihrer Elternzeit wegen der Betriebsstillegung kündigen zu dürfen. Die Behörde erachtete die Kündigung als zulässig, woraufhin die Beklagte im März 2010 auch der Klägerin gegenüber kündigte. Später stellte sich heraus, dass die Massenentlassungsanzeige fehlerhaft war mit der Folge der Unwirksamkeit aller im Dezember 2009 und Januar 2010 ausgesprochenen Kündigungen. Die Kündigung der Klägerin jedoch wurde vom Arbeitsgericht, Landesarbeitsgericht und Bundesarbeitsgericht als wirksam angesehen, da sie nicht im 30-Tages-Zeitraum des § 17 KSchG lag. Daher sei keine Massenentlassungsanzeige notwendig gewesen. Die Fehlerhaftigkeit der Massenentlassungsanzeige wirke sich nicht auf die Wirksamkeit der Kündigung der Klägerin aus.

Die Klägerin setze sich durch alle Instanzen gegen die Kündigung zur Wehr. Insbesondere machte sie geltend, der Sonderkündigungsschutz dürfe sich nicht nachteilig für sie auswirken. Hätte ihre Kündigung nämlich nicht der Zulässigkeitserklärung durch die Landesbehörde bedurft, wäre ihre Kündigung infolge der fehlerhaften Massenentlassungsanzeige so wie die anderen Kündigungen ebenfalls unwirksam gewesen. Deswegen legte sie Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht ein. 

Entscheidung
Das BVerfG gab der Klägerin recht und bejahte eine Grundrechtsverletzung. Zwar erfolgte die Kündigung der Klägerin außerhalb des 30-Tage-Zeitraums des § 17 KSchG. Das BVerfG sah jedoch in dem Ausschluss der Klägerin aus dem Anwendungsbereich der unwirksamen Massenentlassungsanzeige einen Verstoß gegen das Gleichheitsrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG und den Schutz der Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG. Dieser Verstoß könnte auch nicht durch den Sonderkündigungsschutz gerechtfertigt werden.

Im Gegensatz zum Kündigungsschutz in der Elternzeit setzt § 17 KSchG höhere (formale) Anforderungen an eine Kündigung. Dies könne nicht dadurch aufgefangen werden, dass der Kündigungstermin bei Kündigungen, die einer Erlaubnis nach dem BEEG bedürfen, in der Regel später liegt als bei den sonstigen Kündigungen. Erfolgt der Antrag auf Zulässigkeitserklärung der Kündigung bei der zuständigen Behörde innerhalb des 30-Tage-Zeitraums des § 17 KSchG, ist dazu wohl auch diese beabsichtigte Kündigung anzuzeigen, selbst wenn der eigentliche Ausspruch einer Kündigung erst (ggf. Monate) nach Ablauf des 30-Tage-Zeitraums erfolgt.

Das BAG hat anschließend – wegen seiner Bindung an die Erweiterung des Entlassungsbegriffs durch das BVerfG – festgestellt, dass die Kündigung der Klägerin daher unwirksam war. 

Fazit
Die Entscheidung des BVerfG und darauf folgend die des BAG überrascht schon ein wenig. Obwohl die Kündigung gar nicht in den 30-Tage-Zeitraum fiel, soll die Klägerin aber ebenso davon profitieren, dass die Massenentlassungsanzeige unwirksam war. Der vorliegende Fall hat eine recht besondere Konstellation. Es bleibt abzuwarten, wie vergleichbare Fälle in der Zukunft entschieden werden. Der Beschluss des BVerfG ist arbeitsrechtlich schwer nachvollziehbar. Auch die Begeisterung des BAG scheint sich in Grenzen zu halten, in diesem Fall den Massenentlassungsbegriff von der Kündigungserklärung auf die Antragsstellung zur Zulässigkeitserklärung bei der zuständigen Behörde zu erweitern. Setzt sich letztere Variante durch, würde der Arbeitgeber zukünftig bei der Massenentlassungsanzeige auch mitzuteilen haben, wenn er den Entschluss trifft bzw. einen Antrag stellt zu einer späteren Kündigung eines Arbeitnehmers, dem Sonderkündigungsschutz zukommt; andernfalls könnte die spätere Kündigung bereits bei fehlender Mitteilung unwirksam sein. Dies führt zu einer fühlbaren Rechtsunsicherheit bei der Kündigung von Arbeitnehmern mit Sonderkündigungsschutz im Rahmen von Massenentlassungen.

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