Kurzfristige Stornierungen von Lieferabrufen und reduzierte Abrufvolumen der OEM: Welche Rechte haben Zulieferer und was ist zu tun?

Geschrieben von

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Dr. Matthias Spilker, LL.M.

Partner, Co-Head of the Automotive & Mobility Group
Deutschland

Der Schwerpunkt meiner Beratung liegt auf gerichtlichen (Litigation, Arbitration) und außergerichtlichen Rechtstreitigkeiten und komplexen Wirtschaftsverträgen, beides mit einem Fokus auf Mandanten aus den Sektoren Automotive & Mobility sowie Energie. Besonders spezialisiert bin ich auf Lieferkettenstreitigkeiten. Ich bin Co-Leiter der Internationalen Automotive & Mobility Group von Bird & Bird und Partner in der Dispute Resolution und der Commercial Group der Kanzlei. Zudem bin ich Co-Leiter der deutschen ESG-Group.

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Miriam Richter

Partner
Deutschland

Als Partnerin und Mitglied unseres Commercial Teams sowie der Automotive Sektorgruppe berate ich Mandanten in zivil- und handelsrechtlichen Fragen sowie im Produkthaftungsrecht und im Produktsicherheitsrecht.

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Felix Schmidtke

Associate
Deutschland

Als Senior Associate in unserem Düsseldorfer Commercial-Team sowie Mitglied unserer Automotive Sektorgruppe berate ich nationale und internationale Unternehmen in verschiedenen Bereichen des Wirtschaftsrechts. Dabei vertrete ich die Interessen unserer Mandanten sowohl gerichtlich als auch außergerichtlich.

Die Automobilindustrie ist derzeit aufgrund verschiedener Entwicklungen stark krisengeplagt. Die COVID-19-Pandemie, verschiedene Lieferengpässe im Rohstoffbereich, die chronische Unterversorgung des Marktes mit Halbleitern und nicht zuletzt die aktuellen Entwicklungen im Russland-Ukraine-Konflikt sorgen für weitreichende Störungen und andauernde Lieferprobleme in den automobilen Lieferketten.

Um eigene Verluste abzufedern, sind nahezu alle Automobilhersteller in den vergangenen Wochen und Monaten dazu übergegangen, ihre Werke und/oder Produktionsstätten zeitweise zu schließen und die beim Zulieferer zuvor getätigten Lieferabrufe kurzfristig zu stornieren. Diese erfolgen in aller Regel nur wenige Tage vor der geplanten Auslieferung und haben erhebliche Folgen für die Zulieferer: Zum Teil kommt es zu sog. Leerfahrten, die Auslieferungslager der Zulieferer laufen voll und es fallen erhebliche Mehrkosten für Lagerung und Logistik an; all dies zusätzlich zu den personellen und zeitlichen Mehrbelastungen. Zudem entstehen durch die reduzierten Abrufvolumen erhebliche finanzielle Schäden. Schäden in Millionenhöhe sind dabei keine Seltenheit. Das volatile Abrufverhalten in der automobilen Lieferkette wird darüber hinaus dadurch verstärkt, dass die Versorgungsengpässe im Rohstoff- und Halbleiterbereich – und jetzt auch bei Kabelbäumen – zudem erhebliche Bedarfsschwankungen nach sich ziehen und die Kunden aufgrund kurzfristiger Materiallieferungen ihre Produktionen teilweise innerhalb weniger Tage und ohne angemessene Vorlaufzeit für den Lieferanten wiederanfahren. Hierdurch kommt es nicht selten zu sehr kurzfristigen und signifikanten Erhöhungen der Lieferabrufe bzw. zum Wiedereinstellen zuvor stornierter Abrufe durch die Kunden. Das Abrufverhalten der Kunden ist schlichtweg nicht mehr planbar.

Aufgrund dieser fehlenden Planbarkeit stellen sich viele Automobilzulieferer im Tagesgeschäft zur Zeit häufig insbesondere die folgenden (Rechts-)Fragen:

  • Trifft den Automobilhersteller eine Abnahmeverpflichtung trotz der Stornierung von Lieferabrufen?
  • Besteht für den Zulieferer eine Lieferverpflichtung, wenn der Hersteller Lieferabrufe kurzfristig wiedereinstellt oder erhöht?
  • Was sollten Zulieferer im Falle kurzfristiger Stornierungen oder Änderungen von Lieferabrufen beachten?

Trifft den Automobilhersteller eine Abnahmeverpflichtung trotz der Stornierung von Lieferabrufen?

Ob die Automobilhersteller zur Abnahme bestimmter Mengen verpflichtet sind, lässt sich pauschal nicht beantworten. Vielmehr hängt die Beantwortung dieser Frage von der individuellen Ausgestaltung der Lieferabrufe sowie den sonstigen vertraglichen Regelungen zwischen Kunde und Lieferant ab. Auch wenn die Lieferabrufe und Standardverträge der Kunden in aller Regel keine ausdrücklichen Abnahmeverpflichtungen vorsehen, bedeutet dies nicht, dass den Zulieferern zwangsläufig die Hände gebunden sind. Denn erstens besteht in vielen Fällen die Möglichkeit, zumindest eine gewisse Abnahmeverpflichtung über gesetzliche Regelungen herzuleiten. Und zweitens enthalten die Standardvertragswerke der Kunden vielfach Freigabevereinbarungen, die ebenfalls eine gewisse Abnahmeverpflichtung des Kunden nach sich ziehen können.

Eine (potentielle) Abnahmeverpflichtung des Kunden setzt aber auch voraus, dass dem Kunden kein Stornierungsrecht zusteht, das heißt also, dass er sich nicht in rechtmäßiger Art und Weise vom Vertrag mit dem Lieferanten lösen kann. Zu einem kann sich ein solches Stornierungsrecht – je nach Fallgestaltung – aus vertraglichen Regelungen (etwa durch Force Majeure- oder spezielle Stornierungsklauseln) ergeben. Zum anderen berufen sich die Hersteller teilweise auch auf gesetzliche Regelungen. Jedoch ist auch insoweit festzuhalten, dass sich pauschale Äußerungen hierzu – wie sie auf Seiten des Herstellers häufig zu beobachten sind – verbieten und die Voraussetzungen im Einzelfall zu prüfen sind.

Storniert der Kunde, obwohl ihm ein Stornierungsrecht nicht zusteht, kommen bei kurzfristigen Stornierungen (und bspw. der Verweigerung der Annahme von Lieferungen) Schadensersatzansprüche der Lieferanten in Betracht.

Besteht für den Zulieferer eine Lieferverpflichtung, wenn der Hersteller Lieferabrufe kurzfristig wiedereinstellt oder erhöht?

Aufgrund von Bedarfsschwankungen und der hiermit verbundenen oft sehr kurzfristigen Erhöhungen der Lieferabrufe stellt sich auf Zuliefererseite zudem vermehrt die Frage, inwiefern der Zulieferer zur Lieferung der abgerufenen Menge verpflichtet ist.

Auch die Beantwortung dieser Frage hängt entscheidend von der jeweiligen Ausgestaltung der vertraglichen Beziehungen zwischen Hersteller und Lieferant ab. Selbst wenn sich insoweit häufig eine Lieferverpflichtung aus den vertraglichen Regelungen ergeben dürfte, gilt diese nicht unbegrenzt. Zudem können den Lieferanten auch verschiedene Instrumentarien zustehen, um eine Anpassung oder Befreiung von ihrer Lieferverpflichtung zu erreichen.

Was sollten Zulieferer im Falle kurzfristiger Stornierungen oder Änderungen von Lieferabrufen beachten?

Da sich die aktuelle Situation in der automobilen Lieferkette in naher Zukunft wohl nicht ändern wird, empfehlen wir Zulieferern – sofern noch nicht geschehen – präventive Maßnahmen zu ergreifen, um bei Bedarf schnell reagieren zu können. In diesem Zusammenhang bieten sich insbesondere folgende Schritte an:

Detaillierte Vertragsprüfung erforderlich

Je nach vertraglicher Situation stehen dem Zulieferer unterschiedliche Reaktionsmöglichkeiten hinsichtlich des Abrufverhaltens des Kunden zu. Zu den potentiellen Reaktionsmöglichkeiten zählen etwa ein formeller Widerspruch, die Kündigung von Lieferverträgen, die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen und/ oder die Durchsetzung unterschiedlicher Preisanpassungsrechte. Um die diesbezüglichen Erfolgsaussichten einschätzen zu können, ist eine genaue Prüfung der vertraglichen Situation unerlässlich.

Genaue Dokumentation und Kommunikation entstandener Schäden notwendig

Zudem sollten Zulieferer von Beginn an die durch das Abrufverhalten des Kunden entstandenen Schäden detailliert nachhalten. Dies erleichtert sowohl die Verhandlungen mit dem Kunden über etwaige Kompensationszahlungen als auch eine (potentielle) Geltendmachung etwaiger Schadensersatzansprüche vor Gericht. Wichtig ist auch, dass der Zulieferer das Entstehen von Schäden umgehend gegenüber seinen Kunden kommuniziert.

Neuer Abrufpraxis des Kunden widersprechen

Zulieferer sollten darüber hinaus generell dem neuen Abrufverhalten ihrer Kunden auch widersprechen und sich in diesem Zusammenhang die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen vorbehalten.

Überarbeitung eigener Verkaufsbedingungen

Schließlich sollten Zulieferer gegebenenfalls überprüfen, ob eine Anpassung ihrer eigenen Verkaufsbedingungen an die geänderte Abrufpraxis der Kunden erforderlich ist.

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