Nicht nur der Verfall von Urlaub ist von der Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheit des Arbeitgebers zur Information seiner Arbeitnehmer darüber abhängig. Nach dem EuGH (EuGH, Urteile v. 22.09.2022, C-120/21; C‑518/20 und C‑727/20) verjähren Urlaubsansprüche nur dann, wenn der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber über seinen Anspruch auf Urlaub hinreichend in Kenntnis gesetzt wurde. Das deutsche Verjährungsrecht sei europarechtskonform dahingehend auszulegen, dass die Verjährungsfrist erst zu laufen beginnen kann, wenn der Arbeitnehmer hinreichend über seinen Urlaubsanspruch unterrichtet wurde und dadurch in die Lage versetzt wurde, seinen Urlaubsanspruch auch tatsächlich auszuüben. In drei aktuellen Vorabentscheidungsverfahren verschärft der EuGH damit die Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers.
Die Klägerin war vom 1. November 1996 bis zum 31. Juli 2017 bei der Beklagten als Steuerfachangestellte angestellt. Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses verlangte die Klägerin Vergütung für die zwischen 2013 und 2017 nicht genommenen 101 Urlaubstage. In dieser Zeit wäre es ihr aufgrund von hohem Arbeitsaufkommen nicht möglich gewesen, Urlaub zu nehmen. Die Beklagte lehnte dies ab, die Ansprüche auf Urlaub seien innerhalb der anwendbaren Frist von drei Jahren gem. §§ 193 ff. BGB verjährt.
Das BAG sah unter Heranziehung des Urteils des EuGH vom 6. November 2018 (C-684/16) Anhaltspunkte dafür, dass die Ansprüche noch nicht verjährt sein könnten, da die Arbeitgeberin nicht ihrer Obliegenheit nachgekommen sei, die Klägerin in die Lage zu versetzen, dass sie ihren bezahlten Jahresurlaub tatsächlich zur gebotenen Zeit nehmen kann. Der Arbeitgeber habe den Arbeitnehmer aufzufordern, seinen Urlaub zu nehmen und ihn über das mögliche Erlöschen des Anspruchs in Kenntnis zu setzen (BAG, Vorlagebeschl. v. 29.9.2020 – 9 AZR 266/20(A)). Der Rechtsstreit wurde dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt, in welchem geklärt werden sollte, ob die Verjährung des Urlaubsanspruches gem. §§ 195, 199 Abs. 1 BGB trotz Verletzung der Hinweispflichten nach Unionsrecht gestattet ist.
Hierzu führte der EuGH nun aus, dass das nationale Verjährungsrecht in seiner bisheringen Handhabung nicht mit den unionsrechtlichen Vorgaben aus der Arbeitszeitrichtlinie (RL 2003/88/EG) im Einklang stehe. Die Anwendung des deutschen Verjährungsrechts würde im gegebenen Fall dazu führen, dass der Urlaub von Arbeitnehmern, welche von ihrem Arbeitgeber nicht hinreichend informiert wurden, dennoch verfallen würde. Der Arbeitgeber habe zwar ein berechtigtes Interesse daran, dass der Arbeitnehmer ihn nicht erst Jahre später auf Urlaubsvergütung in Anspruch nimmt. In diese Situation habe er sich aber durch die Verletzung seiner eigenen Pflichten zur Information der Arbeitnehmer selbst gebracht, mithin sei er nicht schützenswert. Folglich seien die nationalen Vorschriften unionsrechtskonform dahingehend auszulegen, dass die regelmäßige Verjährungsfrist erst in dem Zeitpunkt beginnt, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über einen drohenden Verfall von Urlaubsansprüchen unterrichtet hat.
In zwei weiteren Fällen (Urteil v. 22.09.2022, C-518/20 und C-727/20) wurden Urlaubsansprüche zweier Kläger behandelt, die infolge ihrer Arbeitsunfähigkeit den Urlaub nicht nehmen konnten. Die Kläger, ein Frachtfahrer und eine Krankenhausangestellte machten Urlaubsansprüche für ein Jahr geltend, in dessen Laufe sie aus gesundheitlichen Gründen arbeitsunfähig bzw. erwerbsgemindert waren. Sie hätten den Urlaub aber bis zum Eintritt der Arbeitsunfähigkeit zumindest teilweise nehmen können. Gem. § 7 Abs. 3 S. 3 BUrlG in unionsrechtskonformer Auslegung verfällt der Urlaubsanspruch bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit spätestens 15 Monate nach dem Ende des Urlaubsjahres (EuGH, Urteil v. 22.09.2022, C‑350/06 und C‑520/06; BAG, Urteil v. 7. 8. 2012 – 9 AZR 353/10). Diesbezüglich wollte das BAG vom EuGH im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahren wissen, ob der Urlaubsanspruch in diesem Fall auch dann in 15 Monaten verfallen könne, wenn der Arbeitgeber seine Obliegenheiten zur Unterrichtung des Arbeitnehmers aus dem Urteil vom 6. November 2018 (EuGH, C-684/16) zur Inanspruchnahme seines Urlaubs verletzt hat.
Der EuGH vertritt hierzu die Auffassung, dass es zwar einerseits unionsrechtskonform sei, dass Urlaub nach 15 Monaten dauerhafter Arbeitsunfähigkeit verfallen könne (vgl. bereits EuGH v. 20.01.2009, C‑350/06 und C‑520/06). Auch aus seiner Sicht sollen abwesende Beschäftigte nicht unbegrenzt Urlaubsansprüche ansammeln können. Vorliegend hatten jedoch beide Beschäftigte Urlaub für einen Bezugszeitraum erworben, in dem sie teils am Arbeitsplatz, teils voll erwerbsgemindert oder krankheitsbedingt arbeitsunfähig waren. Daher würde in diesem Fall ein Fristbeginn dieser 15 Monate erst mit der Erfüllung der Unterrichtungsobliegenheit des Arbeitgebers ausgelöst.
Die vorstehenden Urteile folgen nun einer Reihe von Entscheidungen des EuGH in den letzten Jahren im Zusammenhang mit deutschem Urlaubsrecht. Erneut ist es der EuGH, der die bisher althergebrachten Grundsätze des deutschen Urlaubsrechts auf den Kopf stellt und die Obliegenheit des Arbeitgebers zur Unterrichtung über die Möglichkeit des Urlaubs dahin erweitert, dass nicht nur der Verfall von Urlaub an die Mitwirkung anknüpft, sondern auch Verjährungsfristen erst nach dem Zeitpunkt der Kenntnisnahme von der Möglichkeit der Verjährung durch den Arbeitnehmer zu laufen beginnen können.
Nachfolgend steht nun die Wiederaufnahme der ausgesetzten Verfahren vor dem BAG an. Daraus, dass das BAG bereits in der Vergangenheit wiederholt die Vorabentscheidungen des EuGH zum Urlaubsrecht übernommen hat (vgl. etwa BAG, Urt. v. 19.2.2019 – 9 AZR 541/15) und der EuGH vorliegend eine Auslegung der Vorschriften vornimmt entsprechend der Vermutungen des BAG in seinen Vorlagebeschlüssen (BAG, Vorlagebeschl. v. 29.9.2020 – 9 AZR 266/20 (A); Vorlagebeschl. v. 7.7.2020 – 9 AZR 401/19 (A) und 9 AZR 245/19 (A)) ist davon auszugehen, dass das BAG die Entscheidungen des EuGH in den wiederaufzunehmenden Verfahren umsetzen wird.