Versorgungsunsicherheit – Wie die Versorgung mit Gas gesichert werden soll

Geschrieben von

matthias lang module
Dr. Matthias Lang

Partner
Deutschland

Als Partner unserer internationalen Sektorgruppe Energie- und Versorgungswirtschaft und Mitglied der Praxisgruppe Öffentliches Wirtschaftsrecht biete ich unseren Mandanten kommerzielles Denken und langjährige Expertise in regulatorischen Aspekten rund um Infrastruktur und Energie.

tobias buescher module
Dr. Tobias Büscher

Associate
Deutschland

Ich bin Associate in unserem Düsseldorfer Büro und berate zu Fragen des Energie-, Umwelt- und Planungsrechts sowie des Öffentlichen Wirtschaftsrechts insgesamt.

Der russische Angriff auf die Ukraine und die energiepolitischen Folgen haben ein Schlaglicht auf die Importabhängigkeit Deutschlands von Primärenergieträgern und (potentiell fehlende) Versorgungssicherheit geworfen.

Nachdem infolge des russischen Angriffs das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) Ende März die Frühwarnstufe des nationalen Notfallplan Gas ausgerufen hat, steht die Frage der Versorgungssicherheit auch bei vielen Unternehmen im Fokus

Grund war der Bruch privater Lieferverträge durch die russische Ankündigung, eine Bezahlung der Gaslieferungen nur noch in Rubel zu akzeptieren. Unabhängig von dieser eher formalen Frage wird das Ziel einer Differenzierung der Importabhängigkeiten von Energieträgern auch durch aktuelle Regelungsvorhaben befördert.
Im Folgenden sollen akute Handlungsmöglichkeiten für Unternehmen sowie die geplanten Änderungen beschrieben werden.

Notfallplan Gas

Der nun erstmals zur Anwendung kommende Notfallplan Gas beruht auf einer Vorgabe der Europäischen Union (EU). So sieht die Verordnung (EU) 2017/1938 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2017 über Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Gasversorgung und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 994/2010 (auch „SoS-Verordnung“, SOS-VO) ein umfassendes Instrumentarium zur Stärkung des Erdgasbinnenmarkts vor, um Vorsorgemaßnahmen für den Fall einer Versorgungskrise zu treffen. Die hierfür erforderlichen nationalen Rahmenbedingungen und Gestaltungsrechte für Unternehmen und Behörden sind in dem in Deutschland geltenden Rechtsrahmen im Energiewirtschaftsgesetz (EnWG), dem Energiesicherungsgesetz (EnSiG), sowie in der Gassicherungsverordnung (GasSV) umgesetzt.

Warnkaskade

Die SoS-Verordnung fordert, dass die zuständige Behörde jedes Mitgliedstaats - nachdem sie die erforderlichen Beteiligten (wie Erdgasunternehmen, Organisationen, Stromübertragungsnetzbetreiber und die nationale Regulierungsbehörde) konsultiert hat - einen Notfallplan aufstellt (Art. 8 Abs. 2 lit. b SOS-VO). Dieser Plan soll Maßnahmen zur Beseitigung oder Eindämmung der Folgen einer Störung der Erdgasversorgung vorsehen (Art. 10 SoS-VO) unddie Eckpfeiler der Organisation und Systematik eines operativen Krisen- und Notfallmanagements enthalten. Hierzu werden vor allem drei eskalierende Krisenstufen dieses Notfallmanagements unterschieden: die Frühwarnstufe, die Alarmstufe, sowie die Notfallstufe (Art. 11 Abs. 1 SoS-VO).

  • Die Frühwarnstufe wird ausgerufen, wenn konkrete, ernst zu nehmende und zuverlässige Hinweise darauf vorliegen, dass ein Ereignis eintreten kann, welches wahrscheinlich zu einer erheblichen Verschlechterung der Gasversorgungslage, sowie wahrscheinlich zur Auslösung der Alarm- oder der Notfallstufe führt.
  • Die Alarmstufe ist erreicht, wenn eine Störung der Gasversorgung oder eine außergewöhnlich hohe Nachfrage nach Gas vorliegt, die zu einer erheblichen Verschlechterung der Gasversorgungslage führt. Der Markt ist dabei aber noch in der Lage, die Störung oder Nachfrage zu bewältigen, ohne dass nicht-marktbasierte Maßnahmen ergriffen werden müssen.
  • Die Notfallstufe setzt schließlich eine außergewöhnlich hohe Nachfrage nach Gas, eine erhebliche Störung der Gasversorgung oder eine andere beträchtliche Verschlechterung der Versorgungslage voraus. Dabei wurden zuvor alle einschlägigen marktbasierten Maßnahmen umgesetzt, aber die Gasversorgung reicht nicht aus, um die noch verbleibende Gasnachfrage zu decken. Vielmehr müssen zusätzlich nicht-marktbasierte Maßnahmen ergriffen werden, um insbesondere die Gasversorgung der geschützten Kunden sicherzustellen.

Konsequenzen und mögliche Maßnahmen

Die entsprechend der jeweiligen Stufe möglichen marktbasierten Instrumente und Maßnahmen der Gasversorgungsunternehmen sind in §§ 16, 16a EnWG verankert. „Marktbasiert“ bedeutet hier, dass diese von den am Markt tätigen Gasversorgungsunternehmen ohne Eingriff des Staates ergriffen werden können. Möglich sind dabei sowohl marktbezogene – beispielsweise der Einkauf von Regelenergie oder die Kürzung von Gaslieferungen – als auch netzbezogene Maßnahmen. Letztere – beispielsweise Netzschaltungen – beeinflussen den Markt nicht. Nicht marktbasierte Maßnahmen i.S.d. Notfallplans stellen hoheitliche Eingriffsmaßnahmen dar, die national im EnSiG und in der GasSV festgelegt sind. Agierende Behörde ist dabei die Bundesnetzagentur.

Auf den verschiedenen Stufen des Notfallplans können konkret folgende Maßnahmen ergriffen werden:

  • In der Frühwarn- und Alarmstufe gelten die europäischen Binnenmarktregeln weiterhin uneingeschränkt, während die Gasversorgungsunternehmen die Versorgung der „geschützten Kunden“ im Sinne § 53a EnWG von mit Erdgas sicherstellen.
    Die Regelung sieht vor, dass insbesondere die Haushaltskunden, weitere Letztverbraucher im Erdgasverteilernetz und grundlegende soziale Dienste versorgt werden, sowie Fernwärmeanlagen an ein Erdgasverteiler- oder Fernleitungsnetz angeschlossen sind. Somit können neben Verbrauchern auch Unternehmen geschützte Kunden sein, wenn sie beispielsweise Letztverbraucher im Erdgasverteilernetz sind, bei denen entweder standardisierte Lastprofile Anwendung finden, oder die Haushaltskunden zum Zwecke der Wärmeversorgung mit dem erforderlichen Teil beliefern, § 53a Abs. 1 Nr. 1 EnWG.
    Die Fernleitungs- und Verteilernetzbetreiber können im Rahmen ihrer jeweiligen Systemverantwortung die marktbasierten Maßnahmen der §§ 16, 16a EnWG – insbesondere den Einsatz von Ausgleichsleistungen, vertragliche Regelungen über eine Abschaltung und den Einsatz von Speichern – ergreifen. Die Fernleitungsnetzbetreiber geben mindestens einmal täglich schriftliche Lageeinschätzungen an das BMWK. Die Übertragungsnetzbetreiber Strom tauschen notwendige Informationen aus und koordinieren ihre Maßnahmen untereinander, um ihre jeweiligen Netze so lange wie möglich stabil zu halten.
  • Im Gegensatz dazu stehen in der Notfallstufe ergänzend zu den marktbasierten Maßnahmen hoheitliche Maßnahmen nach EnSiG und GasSV zur Verfügung. Diese werden von der BNetzA bzw. den Bundesländern als Lastverteiler durchgeführt, um den lebenswichtigen Bedarf an Gas unter besonderer Berücksichtigung der geschützten Kunden zu sichern und Folgeschäden zu minimieren. Die Gasversorgungsunternehmen werden verpflichtet, das BMWK bei der Lagebewertung zu unterstützen und im Krisenteam mitzuarbeiten. Dabei muss gewährleistet werden, dass keine Maßnahmen ergriffen werden, 
    • die die Lastflüsse innerhalb des Binnenmarktes ungebührlich einschränken; 
    • durch die wahrscheinlich die Gasversorgung in einem anderen EU-Mitgliedstaat ernsthaft gefährdet würde, sowie
    • der grenzüberschreitende Zugang zu Infrastrukturen - soweit technisch und sicherheitstechnisch möglich - aufrechterhalten wird (Art. 11 Abs. 6 SoS-VO).

Handlungsmöglichkeiten

Wenn der Ernstfall eintritt und die Notfallstufe ausgerufen wird, muss die Bundesnetzagentur als Bundeslastverteiler entscheiden, wer weiterhin mit Gas versorgt werden soll. In diesem Zusammenhang betont die Behörde, eine solche Entscheidung hänge immer von dem konkreten Einzelfall ab und es würden keine abstrakte Reihenfolge der Abschaltung vorbereitet. Als wichtige Parameter des Einzelfalls seien hierbei beispielsweise die Gasspeicherfüllmengen, die Witterungsbedingungen, die europäischen Bedarfe, sowie die bereits erzielten Einsparerfolge zu berücksichtigen.

Nichtsdestotrotz erarbeitet die Bundesnetzagentur Kriterien, anhand derer eine Gesamtabwägung vereinfacht getroffen werden kann. Diese sollen gewährleisten, dass Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit einer solchen Entscheidung gewahrt werden. Hierfür werden von Netzbetreibern seit dem 21.04.2022, von den Letztverbrauchern ab dem 02.05.2022 Informationen über ihre Anschluss- und Benutzungssituation eingeholt. Unternehmen ist zu raten, fundierte Auskünfte über die folgenden Bereiche zu erteilen:

  • Größe und Leistung des Unternehmens
  • Belieferung kritischer Infrastruktur und bestehende Lieferverpflichtungen
  • benötigte Reaktionszeit für ein schonendes Herunterfahren, damit Schäden vermieden werden können,
  • Überblick über Prozesse, die bereits konzeptuell nicht unterbrochen werden können,
  • wirtschaftliche Folgen der Abschaltung, sowie
  • die Möglichkeit eines Brennstoffwechsels.

Nachdem die Informationen eingeholt wurden, sollen diese auf einer IT-basierten Sicherheitsplattform Gas zusammengetragen werden.
Betroffene sind im Falle einer Abschalteverfügung durch die Bundesnetzagentur jedoch nicht schutzlos gestellt. Sofern es durch die Abschaltung zu massiven Eingriffen in das Eigentum in Form einer Enteignung kommt, muss gemäß § 11 EnSiG eine Entschädigung gezahlt werden. Auch sieht § 12 EnSiG einen Härteausgleich vor, wenn durch die Verfügung wirtschaftliche Existenzen gefährdet oder vernichtet werden. Ein Ausgleich ist gegenüber der Bundesnetzagentur geltend zu machen. Darüber hinaus diskutiert werden Ansprüche aus Amtspflichtverletzung des Bundes (Art. 34 GG i.V.m. § 839 BGB). Voraussetzung wäre hier, dass die Gewährleistung der sicheren Energieversorgung verletzt ist.

Aktuelle gesetzliche Vorhaben

Neben dem Ausbau erneuerbarer Energien und einer Diversifizierungsstrategie, die den Bezug von Erdgas beispielsweise als Liquefied Natural Gas (LNG) über geplante feste oder vor der Küste befindliche schiffbasierte Terminals ermöglichen soll, hat der Bundesgesetzgeber weitere Maßnahmen in den Blick genommen, um die Versorgung zu sichern.

Gasspeichergesetz

Mit Beschluss des Bundesrates vom 08.04.2022 bereits beschlossene Sache ist die Verpflichtung der Betreiber von Gasspeicheranlagen zu Mindestfüllständen zu bestimmten Zeitpunkten im Jahr durch das Gasspeichergesetz. Die nach Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt am 29.04.2022 Anfang Mai in Kraft tretende Änderung des EnWG sieht vor, dass Betreiber von Gasspeicheranlagen je einen Füllstand von

  • 80 Prozent am 1. Oktober,
  • 90 Prozent am 1. November und
  • 40 Prozent am 1. Februar

vorhalten. Das Gesetz sieht vor, dass die Werte entsprechend der Versorgungssituation durch Rechtsverordnung angepasst werden können.
Um nicht genutzte Speicherkapazitäten verfügbar zu machen, sind Betreiber verpflichtet, ihre Verträge mit Nutzern anzupassen und freie Speicherkapazitäten zur Verfügung zu stellen. Sofern diese Maßnahmen nicht ausreichen, um die Füllstandsvorgaben zu erreichen, sind kurzfristig weitergehende Maßnahmen wie die Ausschreibung von Gas-Optionen für die Speicherkapazitäten möglich.

Novelle des Energiesicherungsgesetzes

Als weitere Maßnahme ist eine Überarbeitung des Energiesicherungsgesetzes (EnSiG) im Gesetzgebungsverfahren. Der aktuelle Entwurf (EnSiG-E) wurde am 12.05.2022 vom Bundestag beschlossen. Die Zustimmung des Bundesrats wird in dessen Sitzung am 20.05.2022 erwartet.

Inhaltlich sollen die bereits enthaltenen Maßnahmen für den Krisenfall konkretisiert und punktuell ergänzt werden. Unter anderem ist eine Verordnungsermächtigung vorgesehen, die Einrichtung und Betrieb digitaler Plattformen zur Vorbereitung behördlicher Maßnahmen erlaubt. In gleicher Weise sollen zukünftig durch Rechtsverordnung Abweichungen und Ausnahmen von immissionsschutzrechtlichen Vorgaben möglich sein.

Neu aufgenommen wird ein § 2 a EnSiG-E, der die Maßnahmen und Verordnungsermächtigungen auch auf die Erfüllung der sich aus europarechtlichen Vorgaben ergebenden Solidaritätsverpflichtungen erstreckt. Auch für diese Maßnahmen greifen die bereits bestehenden Entschädigungs- und Härteausgleichregelungen.
Ebenfalls komplett neu gefasst werden die Regelungen zur Treuhandverwaltung und Enteignung von Unternehmen kritischer Infrastruktur. Demnach sollen Unternehmen, die selbst kritische Infrastruktur im Energiesektor betreiben oder mit einem solchen Unternehmen verbunden sind unter Treuhandverwaltung gestellt werden können. Voraussetzung ist, dass die konkrete Gefahr besteht, dass ohne eine Treuhandverwaltung das Unternehmen seine dem Funktionieren des Gemeinwesens im Sektor Energie dienenden Aufgaben nicht erfüllen wird, und eine Beeinträchtigung der Versorgungssicherheit droht.

Die Anordnung der Treuhandverwaltung erfolgt dabei befristet auf maximal sechs Monate, kann aber bei Vorliegen der Voraussetzungen verlängert werden. Die Kosten für die Treuhandverwaltung trägt das Unternehmen selbst.

Wenn die Treuhandverwaltung nicht mehr zur Sicherung der Energieversorgung ausreicht, können darüber hinaus auch Anteile an Unternehmen der kritischen Infrastruktur im Energiesektor oder mit solchen Unternehmen verbundene Unternehmen enteignet werden. Enteignungsbegünstigter muss dabei eine Gesellschaft in (ausschließlich) öffentlicher Hand sein.

Für die Enteignung ist entsprechend grundgesetzlicher Vorgaben eine Entschädigung zu leisten.

Einordnung

Es ist unklar, ob sich die Versorgungssituation nach den Lieferstopps Russlands nach Polen und Bulgarien im Verlauf des Krieges und des russischen Boykotts deutscher Gasversorgungsunternehmen nochmals zuspitzt.

Die geplanten und teilweise bereits beschlossenen Regelungen bereiten die im Ernstfall gegebenenfalls notwendigen staatlichen Eingriffe vor, indem das Instrumentarium ergänzt und spezifiziert wird. Ob und inwieweit dieses zum Einsatz kommt, bleibt abzuwarten.

Für Unternehmen, die Versorgungsengpässe fürchten, bleibt die Empfehlung, anhand der genannten Kriterien die (wirtschaftliche) Relevanz der Versorgung gegenüber den Netzbetreibern und Energieversorgern darzulegen.

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