Immer wieder steht die korrekte Anzeige von Massenentlassungen im Mittelpunkt gerichtlicher Streitigkeiten. Grund hierfür ist oftmals, dass das Massenentlassungsverfahren mit hohen formalen Anforderungen verbunden und somit besonders anfällig für Fehler ist.
So ist etwa vorgesehen, dass Arbeitgeber den Betriebsrat durch Mitteilung über eine geplante Massenentlassung informieren müssen.
Mit der Frage, welchen Schutzzweck die Übermittlungspflicht dieser Mitteilung an die Agentur für Arbeit verfolgt und ob eine unterbliebene Übermittlung – als Sanktion – zur Unwirksamkeit einer Kündigung führt, hat sich nun das Bundesarbeitsgericht (BAG) beschäftigt. Der sechste Senat des BAG hat diese Frage mit Beschluss vom 27.01.2022 (Az. 6 AZR 155/21) zur Beantwortung an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorgelegt.
Der Beklagte ist Insolvenzverwalter in dem am 1. Oktober 2019 über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin eröffneten Insolvenzverfahren. Der Kläger war seit 1981 bei der Insolvenzschuldnerin beschäftigt. Am 17. Januar 2020 wurde die vollständige Einstellung des Geschäftsbetriebs der Insolvenzschuldnerin zum 30. April 2020 beschlossen. In diesem Zusammenhang war die Entlassung aller zuletzt noch 195 beschäftigten Arbeitnehmer beabsichtigt. Aufgrund des Stilllegungsbeschlusses fanden mit dem bei der Insolvenzschuldnerin bestehenden Betriebsrat Verhandlungen über den Abschluss eines Interessenausgleichs sowie eines Sozialplans statt. In Verbindung mit dem Interessenausgleichsverfahren wurde auch das im Falle einer Massenentlassung erforderliche Konsultationsverfahren gemäß § 17 Abs. 2 KSchG durchgeführt. Entgegen § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG wurde jedoch der zuständigen Agentur für Arbeit keine Abschrift der das Konsultationsverfahren einleitenden und an den Betriebsrat gerichteten Mitteilung gemäß § 17 Abs. 2 KSchG übermittelt. Mit Schreiben vom 23. Januar 2020 wurde eine Massenentlassungsanzeige erstattet, deren Eingang die Agentur für Arbeit am 27. Januar 2020 bestätigte. Am 28. Januar 2020 erhielt der Kläger die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses zum 30. April 2020. Noch für den 28./29. Januar 2020 beraumte die Agentur für Arbeit Beratungsgespräche für 153 Arbeitnehmer der Insolvenzschuldnerin an.
Mit seiner Klage hat der Kläger die Unwirksamkeit der Kündigung vom 28. Januar 2020 geltend gemacht. Die unterlassene Übermittlung der an den Betriebsrat gerichteten Mitteilung gemäß § 17 Abs. 2 KSchG an die Agentur für Arbeit verstoße gegen § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG. Diese Vorschrift enthalte nicht nur eine sanktionslose Nebenpflicht, sondern stelle eine Wirksamkeitsvoraussetzung der Kündigung dar. Die Übermittlungspflicht solle sicherstellen, dass die Agentur für Arbeit so früh wie möglich Kenntnis von den bevorstehenden Entlassungen erhalte, um ihre Vermittlungsbemühungen darauf einstellen zu können. Sie habe demnach arbeitnehmerschützenden Charakter. Die Vorinstanzen (Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 24. Februar 2021 – 17 Sa 890/20 und Arbeitsgericht Osnabrück, Urteil vom 16.06.2020 – 1 Ca 79/20) haben die Klage abgewiesen.
Das Massenentlassungsverfahren ist immer dann durchzuführen, wenn eine größere Anzahl an Arbeitsplätzen infolge von arbeitgeberseitigen Kündigungen wegfallen soll. Auf europäischer Ebene ist die Durchführung des Massenentlassungsverfahrens samt seinen Einzelheiten in der Massenentlassungsrichtlinie der Europäischen Union (Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20.07.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen) vorgeschrieben. Diese Richtlinie wurde in Deutschland durch die §§ 17 ff. KSchG umgesetzt. Die Vorschrift des § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG, die die Übermittlungspflicht an die Agentur für Arbeit vorsieht, soll Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie in nationales Recht umsetzen. Das BAG möchte nun durch die Vorlage an den EuGH klären, welchen Schutzweck Art. 2 Abs 3 Unterabs. 2 der Richtlinie und somit auch die entsprechend in nationales Recht umgesetzte Vorschrift des § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG verfolgen. Hiervon hängt nach Auffassung des Senats ab, ob § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG, der unionsrechtskonform in gleicher Weise wie Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie auszulegen sei, ebenso wie andere, den Arbeitnehmerschutz – zumindest auch – bezweckende Vorschriften im Massenentlassungsverfahren als Verbotsgesetz gemäß § 134 BGB anzusehen sei. In diesem Fall wäre die Kündigung unwirksam.
Die Vorinstanzen haben § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG nicht als Verbotsgesetz im Sinne von § 134 BGB eingestuft. Ein Verbotsgesetz sei im Zusammenhang mit Massenentlassungen immer dann anzunehmen, wenn die maßgebliche Vorschrift von ihrem Inhalt her einen solchen Schutzzweck aufweise, der die von einer Massenentlassung betroffenen Arbeitnehmer vor Arbeitslosigkeit bewahren solle. Die Übermittlung der Mitteilung an die Agentur für Arbeit solle bezwecken, dass diese frühzeitig von den Massenentlassungen unterrichtet werde. Durch die Vorabinformation könne die Vermittlungstätigkeit der Arbeitsverwaltung aber weder vorbereitet noch erleichtert werden, weil im Zeitpunkt der Unterrichtung gerade noch nicht feststehe, ob und wie viele Arbeitnehmer auf den Arbeitsmarkt gelangen werden und welche Arbeitnehmergruppen betroffen seien. Darüber sei gerade im Konsultationsverfahren zu verhandeln. Somit sei § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG kein Verbotsgesetz. In der Revision war sich das BAG in dieser Sache jedoch nicht so sicher wie die Vorinstanzen und machte von seinem Recht Gebrauch, ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV einzuleiten und die Frage nach dem Schutzzweck der streitgegenständlichen Vorschriften dem EuGH vorzulegen.
Eine Entscheidung des EuGH über die Vorlagefrage ist frühstens in ein bis zwei Jahren zu erwarten. Bis dahin sollten Arbeitgeber bei geplanten Massenentlassungen darauf achten, die Vorgaben der §§ 17 ff. KSchG und die dazu existierende Rechtsprechung der Instanzgerichte genaustens einzuhalten. Fest steht, dass sich für Arbeitgeber noch höhere Hürden bei Massenentlassungen stellten, wenn der EuGH den § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG und Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Massenentlassungsrichtlinie tatsächlich eine arbeitnehmerschützende Wirkung zumäße. Für diesen Fall hat das BAG schon angedeutet, § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG als Verbotsgesetz im Sinne von § 134 BGB einstufen zu wollen. Wenn Arbeitgeber es also versäumten, die Agentur für Arbeit über die Einleitung des Konsultationsverfahrens mit dem Betriebsrat zu unterrichten, wären alle Kündigungen demnach unwirksam. Es bleibt abzuwarten, wie der EuGH die Vorlagefrage beantworten wird. Möglich erscheint ebenfalls die Entscheidung, dass die streitgegenständlichen Vorschriften – wie auch die deutschen Instanzgerichte vertreten – lediglich der Information der Arbeitsverwaltung dienten.