Die zeitliche Koinzidenz von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und Kündigungen

Geschrieben von

martin nebeling module
Dr. Martin Nebeling

Partner
Deutschland

Als Fachanwalt für Arbeitsrecht bin ich als Partner im Arbeitsrechtsteam in Deutschland und unserer Praxisgruppe Internationales Arbeitsrecht tätig und biete breitgefächerte Expertise in komplexen arbeitsrechtlichen Sachverhalten.

Das BAG setzt dem Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AU-Bescheinigungen) erneut Grenzen. In seinem Urteil vom 13. Dezember 2023 (5 AZR 137/23) befasste sich das BAG wiederholt mit AU-Bescheinigungen im Kontext einer arbeitgeberseitigen Kündigung.

Gegenstand der Entscheidung war ein Rechtsstreit, der im Jahr 2023 vorerst sein Ende vor dem LAG Niedersachsen fand. Die Parteien stritten um einen Entgeltfortzahlungsanspruch. Der Kläger war bei der Beklagten seit März 2021 beschäftigt. Am 2. Mai 2022 legte er der Beklagten die erste AU-Bescheinigung vor, die den Zeitraum vom 2. Bis zum 6. Mai umfasste. Die Beklagte kündigte den Kläger mit Schreiben vom 2. Mai 2022 zum 31. Mai 2022. Das Kündigungsschreiben ging dem Kläger am 3. Mai 2022 zu. Daraufhin folgten zwei weitere AU-Bescheinigungen, die den Zeitraum bis zum Ende der Kündigungsfrist erfassten. Der Kläger wurde mit Ablauf der Kündigungsfrist wieder arbeitsfähig und nahm eine neue Beschäftigung am nächsten Tag auf. Die Beklagte war der Ansicht, der Beweiswert der AU-Bescheinigung sei erschüttert und verweigerte die Entgeltfortzahlung für den Zeitraum vom 1. Mai bis zum 31. Mai. Hiergegen wendete sich der Kläger und reichte Klage ein.

Der Beweiswert einer AU-Bescheinigung

Der AU-Bescheinigung kommt im Rahmen von Gerichtsprozessen grundsätzlich ein hoher Beweiswert zu. Wenn es sich um einen Entgeltfortzahlungsanspruch des Arbeitnehmers dreht, stellt sie das wichtigste Beweismittel für das Vorliegen der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit dar. Sofern ein Arbeitnehmer eine ordnungsgemäße AU-Bescheinigung als Beweismittel in den Prozess einbringt, wird der Richter den Beweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit in der Regel als erbracht ansehen. Zu den Vorgaben für eine ordnungsgemäße AU-Bescheinigung und den Auswirkungen, wenn die AU-Bescheinigung diesen Vorgaben nicht gerecht wird, verweisen wir auf unseren Newsletter-Beitrag des Vormonats. Der Arbeitgeber hat im Hinblick auf die AU-Bescheinigung die Möglichkeit, ihren Beweis zu erschüttern. Erforderlich dafür ist, dass er tatsächliche Umstände darlegen und beweisen kann, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers ergeben. Die zeitliche Koinzidenz von Kündigung und Arbeitsunfähigkeit wurde bereits vom BAG als Indiz gewertet, welches die Erschütterung des Beweiswertes zufolge hatte.

Die Vorinstanzen

Das LAG Niedersachsen gab, wie auch die Vorinstanz, dem Kläger Recht. Es sah den Beweiswert der AU-Bescheinigung als nicht erschüttert an. Begründet wurde dies mit der nicht vorhanden zeitlichen Koinzidenz der AU-Bescheinigungen. An dieser fehle es, da die erste AU-Bescheinigung bereits vor Zugang der Kündigung vorlag. Daher läge gerade kein vergleichbarer Fall vor, in denen sonst von einer zeitlichen Koinzidenz und damit Erschütterung des Beweiswertes auszugehen sei. Die alleinigen Tatsachen, dass ein Arbeitnehmer bis zum Ende der Kündigungsfrist krankgeschrieben ist und unmittelbar am darauffolgenden Tag genesen ist und eine neue Stelle antritt, reiche nicht aus, um den Beweiswert der AU-Bescheinigungen zu erschüttern.

Höchstrichterliche Rechtsprechung zur Erschütterung des Beweiswertes

Dem stellt sich das BAG mit seiner Entscheidung nun entgegen und entwickelt damit seine höchstrichterliche Rechtsprechung zur Erschütterung des Beweiswertes von AU-Bescheinigungen weiter. 

Zunächst weist das BAG, wie auch das LAG Niedersachsen, darauf hin, dass es für die Erschütterung des Beweiswertes aufgrund zeitlicher Koinzidenz nicht darauf ankommt, ob es sich um eine Eigenkündigung oder eine arbeitgeberseitige Kündigung handelt. Überdies kann es auch keinen Unterschied machen, ob der Beweis einer Arbeitsunfähigkeit durch eine oder mehrere AU-Bescheinigungen geführt wird. Das bloße Vorliegen von mehreren aufeinander folgenden AU-Bescheinigungen verhindert nicht die Erschütterung ihres Beweiswertes, sofern der Arbeitgeber die notwendigen Tatsachen vorträgt.

Anders als die Vorinstanzen sah das BAG die Erschütterung des Beweiswertes auch nicht dadurch gehindert, dass die erste AU-Bescheinigung zeitlich vor der Kündigung des Arbeitgebers lag. Lediglich die Bescheinigung, die vor der Kündigung erfolgte, kann nicht erschüttert sein, da es hier an der zeitlichen Koinzidenz zwischen dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit und dem Zugang der Kündigung fehlt. Indes ergibt die einzelfallbezogene Würdigung der Gesamtumstände im Hinblick auf die nachfolgenden AU-Bescheinigungen, dass eine Erschütterung zu bejahen ist. Die nachfolgenden AU-Bescheinigungen sahen eine passgenaue Verlängerung der Arbeitsunfähigkeit bis zum Ende der Kündigungsfrist, folglich eine zeitliche Koinzidenz, vor. 
Daneben ist zu würdigen, dass der Arbeitnehmer unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung angenommen hat. In Anbetracht dieser Gesamtumstände gelang es dem Arbeitgeber daher, zumindest den Beweiswert der auf die Kündigung folgenden AU-Bescheinigungen zu erschüttern.

Dies führt allerdings nicht dazu, dass der Arbeitgeber den Anspruch des Arbeitnehmers auf Entgeltfortzahlung abwenden konnte. Vielmehr liegt es nun an dem Arbeitnehmer, das Bestehen seiner Arbeitsunfähigkeit im Zeitraum nach der Kündigung darzulegen und zu beweisen. Demzufolge wies das BAG den Fall an das LAG Niedersachsen zurück. Es bleibt abzuwarten, welche Anforderungen das entscheidende Gericht an den Arbeitnehmer stellen wird und welche Beweise für die Überzeugungsbildung des Gerichts genügen werden.

Bedeutung für die Praxis

Mit der Entscheidung gebietet das BAG dem hohen Beweiswert von AU-Bescheinigungen weiter Einhalt. Eine zeitliche Koinzidenz scheidet nicht deshalb aus, weil der Arbeitnehmer bereits vor dem Zugang einer Kündigung eine AU-Bescheinigung vorlegt. Auch spielt es weder eine Rolle, wer die Kündigung ausgesprochen hat, noch wie viele AU-Bescheinigungen vorliegen. Entscheidend sind die Gesamtumstände. Die Entwicklung der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist insgesamt als erfreulich zu bewerten. Der Arbeitgeber hat zum einen regelmäßig weder Kenntnis von den Krankheitsursachen. Zum anderen ist es ihm nur begrenzt möglich, Tatsachen zur Erschütterung des Beweiswertes von AU-Bescheinigungen vorzutragen. Folglich ist es nur sachgerecht, die Anforderungen einer Erschütterung nicht zu überspannen.

Arbeitgeber sollten im Falle von Zweifeln in Bezug auf die tatsächliche Arbeitsunfähigkeit ihres Arbeitnehmers daher sorgfältig untersuchen, welche Umstände im konkreten Fall gegen eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit sprechen. Je mehr Umstände der Arbeitgeber aufklären und nachweisen kann, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Beweiswert der AU-Bescheinigung erschüttert werden kann.

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