Massenentlassungen – Kündigung bei fehlerhafter Anzeige nicht mehr nichtig?

Geschrieben von

Christoph Lutz

Associate
Deutschland

Als Rechtsanwalt in der Praxisgruppe Internationales Arbeitsrecht in München berate ich sowohl nationale wie internationale Mandanten in sämtlichen Bereichen des Individual- und Kollektivarbeitsrechts.

Kürzlich hat der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts (BAG) in Frage gestellt, ob Fehler im Massenentlassungsverfahren tatsächlich – wie bisher – zur Nichtigkeit der Kündigungen führen. Worum es im Vorlagebeschluss geht und welche Auswirkungen zu erwarten sind, erfahren Sie im Folgenden. Es kann jedenfalls noch keine Entwarnung bei Fehlern im Massenentlassungsverfahren gegeben werden.

BAG, Vorlagebeschluss vom 14. Dezember 2023 – 6 AZR 157/22 (B)

Zum Verfahren bei Massenentlassungen

Bei Massenentlassungen haben Arbeitgeber bisher umfangreiche Vorgaben nach dem Kündigungsschutzgesetz (KSchG) einzuhalten. Machen sie dabei Fehler, kann dies zur Nichtigkeit der Kündigung führen. Im Konsultationsverfahren (§ 17 Absatz 2 KSchG) z.B. hat der Arbeitgeber zunächst den Betriebsrat von der geplanten Massenentlassung zu unterrichten und mit diesem zu beraten, wie Entlassungen zu vermeiden sind. Im Anzeigeverfahren (§ 17 Absatz 1 und Absatz 3 KSchG) treffen den Arbeitgeber zahlreiche Pflichten gegenüber der Agentur für Arbeit gemäß Absatz 3 Satz 2 und 3, über Details der geplanten Entlassungen.

Bisherige Rechtsprechung: Verfahrensverstoß führt zu Nichtigkeit der Kündigungen 

§ 17 Absatz 3 Satz 2 und 3 KSchG war nach bisheriger Auffassung des BAG ein Verbotsgesetz. Verstöße sanktionierte das BAG häufig mit der Nichtigkeit der Kündigungen gemäß § 134 BGB: Vor allem die Anzeigepflicht diene dem Individualschutz der Arbeitnehmer (und nicht nur dem arbeitsmarktpolitischen Zweck, die Agentur für Arbeit bei Massenentlassungen vorzuwarnen). Dieser Individualschutz ergebe sich aus der europäischen Massenentlassungsrichtlinie (MERL), auf der § 17 KSchG basiert. Die strenge Rechtsfolge sei wegen der Vorgabe zur effektiven Umsetzung von EU-Richtlinien („effet utile“) geboten. Diese Auffassung wird in der juristischen Literatur seit geraumer Zeit kritisiert. Sie ist jedoch seit Langem Rechtsprechung des BAG und somit für Arbeitgeber, die sich zu einer Massenentlassung gezwungen sehen, ein großes Risiko.

Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH und Vorlagebeschluss zum Zweiten Senat des BAG

Bereits am 13. Juli 2023 hat jedoch der Europäische Gerichtshof (EuGH) festgestellt und geurteilt, dass zumindest Art. 2 Absatz 3 Unterabsatz 2 MERL (den § 17 Absatz 3 Satz 1 KSchG umsetzt) gerade keinen Individualschutz für Arbeitnehmer gewährt (C-134/22). Ob dies auch für die Anzeigepflicht nach den oben genannten Sätze 2 und 3 des Absatzes 3 gilt, hat der EuGH leider nicht klar geäußert. 

Daher hat nun der Sechste Senat des BAG am 14. Dezember 2023 drei Verfahren, in denen es um Massenentlassungen geht, ausgesetzt und in einem der Verfahren (6 AZR 157/22 (B)) beim Zweiten Senat des BAG angefragt, ob dieser an seiner bisherigen Rechtsauffassung festhält. In diesem Vorlagebeschluss hat der Sechste Senat bereits angekündigt, vom bisherigen Sanktionssystem abweichen zu wollen und wesentliche Kritikpunkte an der bisherigen Rechtsprechung aufgegriffen: Er meint nunmehr auch, dass das Anzeigeverfahren keinen Verbotscharakter habe, da der Individualschutz nur Reflex, nicht aber Zweck der Anzeigepflicht sei. Tatsächlich regle das Anzeigeverfahren nur den administrativ-prozeduralen Vorgang (das „Wie“) von Massenentlassungen. Die Wirksamkeit der jeweiligen Kündigung (das „Ob“) sei davon unabhängig. Auch ergebe sich weder aus dem deutschen KSchG noch aus der europäischen MERL, dass ein Verstoß gegen das Anzeigeverfahren zur Unwirksamkeit der Kündigungen führen muss. Eine dahingehende Auslegung durch die Arbeitsgerichte sei weder verhältnismäßig noch möglich.

Folge: Mögliche Rechtsprechungsänderung

Noch kann keine Entwarnung gegeben werden. Erst sollten definitive Urteile des BAG abgewartet werden. 

Bei der nun möglichen Rechtsprechungsänderung würde das strenge Sanktionssystem zum Anzeigeverfahren abgemildert. Zudem ließen sich bisher inkohärente Rechtsfolgen bei unterschiedlichen Fehlern im gesamten Anzeigeverfahren (§ 17 Absatz 1 und Absatz 3 KSchG) vereinheitlichen. Für Arbeitgeber, die bei etwaigen Fehlern im Anzeigeverfahren bislang mit dem Risiko rechnen mussten, dass alle Kündigungen der Massenentlassung nichtig sind, würde diese Änderung Rechtssicherheit schaffen.

Nach dem Vorlagebeschluss explizit nicht vorgesehen ist eine Änderung der Nichtigkeitsfolge bei Fehlern im o.g. Konsultationsverfahren (§ 17 Absatz 2 KSchG). Insoweit hält der Sechste Senat an der Auffassung fest, dass dieses weiterhin Verbotscharakter habe, da es dem Individualschutz von Arbeitnehmern diene und somit die Nichtigkeitsfolge verhältnismäßig sei. 

Sollte der Zweite Senat – wie der Sechste Senat – seine bisherige Rechtsprechung aufgeben, so wären Kündigungen jedenfalls nicht mehr aufgrund von Fehlern im Anzeigeverfahren nichtig. Hält der Zweite Senat dagegen weiter an seiner Auffassung fest, so wäre der Große Senat des BAG, bestehend aus Berufsrichtern aller zehn Senate sowie Laienrichtern, anzurufen. In diesem Fall wäre die begrüßenswerte Rechtsprechungsänderung ungewiss. Es bleibt also abzuwarten. Massenentlassungsverfahren sollten aufgrund der drohenden Sanktionen deshalb bis auf weiters ordnungsgemäß durchgeführt werden. 

 

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