Reform der Produkthaftung - Neue Haftungs- und Prozessrisiken für Unternehmen!

Geschrieben von

Daniel Achtelik

Associate
Deutschland

Als Rechtsanwalt unserer Praxisgruppen Commercial, Dispute Resolution und Compliance in Düsseldorf sowie Mitglied der Automotive Sektorgruppe und der deutschen ESG-Gruppe berate ich nationale und internationale Unternehmen in einer Vielzahl wirtschaftsrechtlicher Angelegenheiten, streitigen Verfahren und Compliance-Fragen im Bereich ESG.

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Miriam Richter

Partner
Deutschland

Als Partnerin und Mitglied unseres Commercial Teams sowie der Automotive Sektorgruppe berate ich Mandanten in zivil- und handelsrechtlichen Fragen sowie im Produkthaftungsrecht und im Produktsicherheitsrecht.

Das Europäische Parlament hat am 12. März 2024 die neue EU-Produkthaftungsrichtlinie[1] verabschiedet. Nach der politischen Einigung im Trilog im Februar 2024 auf einen finalen Text der Richtlinie, steht nur noch die formelle Zustimmung des Rats aus. Dann kann die Reform des europäischen Produkthaftungsrechts in Kraft treten. Die Reform bedeutet eine erhebliche Verschärfung der Produkthaftung für Unternehmen!

Gründe und Ziele der Reform

Die geltende EU-Produkthaftungsrichtlinie[2], auf der auch das deutsche Produkthaftungsgesetz beruht, stammt aus dem Jahr 1985. Wenn man sich vor Augen führt, dass das World Wide Web erst 1989 an den Start ging, überrascht es wenig, dass das europäische Produkthaftungsregime im digitalen Zeitalter aus Sicht des europäischen Gesetzgebers ein Update nötig hat.

Die zunehmende Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft bringt neue Technologien mit sich, die für das Produkthaftungsrecht eine Herausforderung darstellen. Zu nennen sind etwa smarte Produkte und Systeme mit künstlicher Intelligenz (KI), die aufgrund ihrer Komplexität, Konnektivität und Datenabhängigkeit die geltenden juristischen Begriffe und Voraussetzungen überfordern. Die Reform soll diese Produkte in das europäische Produkthaftungsrecht einbeziehen und überkommene Rechtsbegriffe anpassen oder erweitern.

Außerdem ist die Reform des EU-Haftungsrechts als Teil der Nachhaltigkeitsstrategie der EU („Green Deal“) zu verstehen.[3] Geschäftsmodelle einer Kreislaufwirtschaft, bei denen regelmäßig Produkte repariert, recycelt und aufgearbeitet werden, sind das erklärte Ziel der EU-Kommission. Damit stellt sich die Frage nach der Haftung für Produkte, die verändert wurden, nachdem sie auf den Markt gebracht wurden. Die neue EU-Produkthaftungsrichtlinie sieht insoweit vor, dass Unternehmen wie Hersteller haften, wenn sie ein Produkt außerhalb der Kontrolle des ursprünglichen Herstellers so verändert haben, dass die Veränderung als wesentlich gilt, und sie das Produkt anschließend wieder auf den Markt bringen. Dies könnte unter anderem Auswirkung auf die Automobilbranche haben. So besteht beispielsweise für Aufbauhersteller und Start-Ups im Bereich des autonomen Fahrens künftig das Risiko, wie ein Hersteller des gesamten Fahrzeugs zu haften, obwohl sie auf Teile des Fahrzeugs keinen oder nur geringen Einfluss hatten.

Daneben führen Globalisierung und Digitalisierung zu neuen Lieferketten mit modernen Wirtschaftsakteuren (Fulfillment-Dienstleister, E-Commerce-Plattformen), die bislang nicht im Fokus des europäischen Produkthaftungsrechts standen. Die nun beschlossene Richtlinie wird sie zukünftig zu Haftungssubjekten machen.

Zentrales Ziel der Reform ist die Förderung des EU-Binnenmarkts (Art. 1 Abs. 2 EU-Produkthaftungsrichtlinie). Der europäische Gesetzgeber geht davon aus, dieses Ziel durch ein möglichst hohes Verbraucherschutzniveau zu erreichen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, weshalb die Reform Haftungsbeschränkungen abschafft und Unternehmen substanzielle Haftungs- und Prozessrisiken überbürdet.

Im Folgenden bieten wir einen tabellarischen Überblick über die wichtigsten Reforminhalte. Neben der Ausweitung des Kreises der betroffenen Wirtschaftsakteure justieren die Neuerungen die Haftungsvoraussetzungen (Erweiterung des Produkt-, Fehler- und Schadensbegriffs, Wegfall von Haftungsbeschränkungen). Für Unternehmen sind insbesondere die prozessualen Risiken durch eine längere Verjährungshöchstfrist, neue Offenlegungspflichten und diverse Beweiserleichterungen für Anspruchsteller bedeutsam.

Überblick über die wichtigsten Änderungen

 

Geltendes EU-Recht
(RL 85/374/EWG)

Neue EU-
Produkthaftungsrichtlinie

Betroffene
Wirtschaftsakteure

(mögliche
Haftungssubjekte)

Grundsatz: Haftung des Herstellers, Quasi-Herstellers oder Importeurs;

subsidiär des Lieferanten, wenn ein Hersteller nicht festgestellt werden kann

(Art. 1, 3 RL 85/374/EWG;
§§ 1, 4 ProdHaftG)

1. Stufe:

· Hersteller und Quasi-Hersteller

· Hersteller eines Zulieferteils, das in das Produkt integriert oder mit diesem verbunden wird (inter-connected), soweit das unter Kontrolle des Herstellers erfolgt

· Jede Person, die das Produkt außerhalb der Kontrolle des Herstellers wesentlich verändert

2. Stufe, wenn der Hersteller seinen Sitz außerhalb der EU hat:

· Einführer (Importeur)

· Bevollmächtigter des Herstellers (im Sinne des Produktsicherheitsrechts)

· Subsidiär: Fulfillment-Dienstleister (Lager-, Verpackungs- und Versanddienstleister)

3. Stufe, wenn kein Haftungssubjekt nach Stufe 1 oder Stufe 2 in der EU vorliegt:

· Händler

· Anbieter von Online-Verkaufsplattformen

(Art. 7)

Erweiterung des Produktbegriffs

Produkt ist „jede bewegliche Sache, ausgenommen landwirtschaftliche Naturprodukte und Jagderzeugnisse, auch wenn sie einen Teil einer anderen beweglichen Sache bildet“.

(Art. 2 RL 85/374/EWG)

 

Strittig, inwieweit nicht-verkörperte (kein Datenträger, keine Hardware-Software-Kombination) Software erfasst ist.

„Produkt“ bezeichnet alle beweglichen Sachen, auch wenn sie in eine andere bewegliche oder unbewegliche Sache integriert oder mit dieser verbunden (inter-connected) sind. Produkt umfasst auch Elektrizität, digitale Bauunterlagen, Rohstoffe und Software.“

(Art. 4 Nr. (1))

D.h. Erweiterung des Produktbegriffs auf:

· Digitale Bauunterlagen
(insb. Dateien für 3D-Druck)

· Rohmaterialien (z.B. Wasser)

· Grds. jede Software, einschließlich von Stand-alone-Software und KI-Systemen (ausgenommen nicht-kommerzielle und Open-Source-Software)

Erweiterung des Fehlerbegriffs

Zentrale Haftungsvoraussetzung ist ein Produktfehler. Ein Produktfehler liegt vor, wenn das Produkt nicht die Sicherheit bietet, die berechtigterweise erwartet werden kann. Dies wird insbesondere anhand der folgenden Umstände ermittelt:

· Darbietung des Produkts

· Gebrauch des Produkts, mit dem billigerweise gerechnet werden kann

· Zeitpunkt, zu dem das Produkt in Verkehr gebracht wurde

(Art. 6 RL 85/374/EWG; § 3 ProdHaftG)

 

 

Ergänzung des Umstände-Katalogs u.a. um:

· Auswirkungen von Fähigkeiten nach Einsatzbeginn zu lernen oder neue Fähigkeiten zu erlernen (z.B. KI-Systeme)

· Bei smarten Produkten soll der Zeitpunkt relevant sein, ab dem das Produkt nicht mehr unter Kontrolle des Herstellers steht, d.h. nicht nur der Zeitpunkt des Inverkehrbringens
(z.B. Updates)

· Vorhersehbare Kombinationsrisiken zweier Produkte

· Produktsicherheitsanforderungen, einschließlich an Cybersicherheit

· Rückrufaktionen und andere Eingriffe von Marktüberwachungsbehörden im Produktsicherheitsrecht

· Spezifische Anforderungen der Nutzergruppe, für die das Produkt bestimmt ist (z.B. lebenserhaltende Medizinprodukte)

· Bei Produkten zur Schadensvermeidung, jede Zweckverfehlung des Produkts (z.B. Warnsysteme wie ein Rauchmelder)

(Art. 6)

Erweiterung des Schadensbegriffs

„Der Hersteller eines Produkts haftet für den Schaden, der durch einen Fehler dieses Produkts verursacht worden ist" (Art. 1 RL 85/374/EWG; ähnlich § 1 ProdHaftG)

· Umfasst sind Personenschäden (Tod, Körperverletzung) und Sachbeschädigungen
(Art. 9 RL 85/374/EWG, § 1 ProdHaftG)

· Klarstellung, dass Personenschäden medizinisch anerkannte psychische Gesundheitsschäden umfassen

· Erfassung von Schäden durch den Verlust oder Verfälschung von Daten, die nicht nur für berufliche Zwecke verwendet werden

· Keine Haftung für Schäden am Produkt

(Art. 5a)

Wegfall von
Haftungsgrenzen

· Höchstbetrag für Personenschäden von mind. 70 Mio. EUR
(Art. 16 RL 85/374/EWG; in Deutschland: 85 Mio. EUR, § 10 ProdHaftG)

· Selbstbehalt bei Sachbeschädigung von 500 EUR
(Art. 9 lit. b) RL 85/374/EWG; § 11 ProdHaftG)

· Haftungsausschluss bei Herstellung außerhalb der beruflichen Tätigkeit zu nicht-kommerziellen Zwecken
(Art. 7 lit. c) RL 85/374/EWG; § 1 Abs. 2 Nr. 3 ProdHaftG)

· Kein Haftungshöchstbetrag für Personenschäden

 

 

· Kein Selbstbehalt bei Sachbeschädigung



· Kein Haftungsausschluss bei Inverkehrbringen außerhalb der beruflichen Tätigkeit

 

(sonstige Haftungsbeschränkungen: Art. 10)

Verlängerung der Verjährungshöchstfrist

· Regelverjährung 3 Jahre ab Kenntnis des Geschädigten
(Art. 10 RL 85/374/EWG; § 12 ProdHaftG)

· 10 Jahre Höchstfrist ab Inverkehrbringen
(Art. 11 RL 85/374/EWG; § 13 ProdHaftG)

· Grundsatz: Fortgeltung der Regelverjährung von 3 Jahren ab Kenntnis des Geschädigten (Art. 14)

· Fortgeltung der 10-jährigen Höchstfrist ab Inverkehrbringen bzw. ab Inverkehrbringen der wesentlichen Veränderung

· Verlängerung der Verjährungshöchstfrist auf 25 Jahre für gesundheitliche Spätschäden, die nicht innerhalb der Höchstfrist geltend gemacht werden können
(Art. 14a)

Offenlegungspflicht

Keine Offenlegungspflicht

· Voraussetzungen: Erfolgreicher Antrag des Anspruchstellers vor nationalem Gericht; Tatsachen und Belege, die die „Plausibilität“ des Anspruchs stützen

· Rechtsfolge: Pflicht zur Offenlegung aller relevanten Beweismittel, soweit notwendig und verhältnismäßig

(Art. 8)

Beweiserleicht-

erungen für
Anspruchsteller

Grundsatz: Beweislast des Geschädigten für Schaden, Fehler und Kausalität.

(Art. 4 RL 85/374/EWG; § 1 Abs. 4 ProdHaftG)

Einführung diverser Beweiserleichterungen für Anspruchsteller, u.a.:

· Vermutung der Fehlerhaftigkeit bei Verletzung der Offenlegungspflicht

· Vermutung der Kausalität bei fehlertypischen Schäden

· Bei komplexen Fällen: Vermutung von Fehlerhaftigkeit und Kausalität, wenn diese plausibel gemacht wird

(Art. 9 Abs. 2-5)

 

 

Besonders relevante Änderungen für Unternehmen

Da die EU-Produkthaftungsrichtlinie den Kreis der Haftungssubjekte erheblich ausweitet, müssen gerade solche Unternehmen sich auf potenzielle Schadensersatzansprüche einstellen, die bislang nicht zu den typischen Haftungsschuldnern gezählt haben (verändernde Hersteller, Bevollmächtigte des Herstellers, Fulfillment-Dienstleister, Betreiber von Online-Verkaufsplattformen).

Zwar sind auch nach geltendem Recht Softwareprogramme, die auf einem Datenträger gespeichert sind, Kombinationsprodukte aus Hard- und Software oder industriell hergestellte Standardprogramme von der Produkthaftung erfasst. Gerade für Unternehmen, die smarte Produkte oder KI-Systeme entwickeln oder vertreiben ist zweifelsohne die uneingeschränkte Erweiterung der Produkthaftung auf diese Produkte und die entsprechende Anpassung des Fehlerbegriffs von großer Relevanz.

Für alle Unternehmen werden sich insbesondere die neuen prozessualen Pflichten und Risiken auswirken. Die Offenlegungspflicht („disclosure of evidence“) wird weitreichende Konsequenzen für die Erfolgsaussichten von Haftungsprozessen haben, da sie praktisch zu einer Quasi-Beweislastumkehr führt. Der Anspruchsteller muss unter Umständen nur noch die Plausibilität seines Anspruchs nachweisen. Welcher Maßstab hierfür von den Gerichten angelegt wird, muss sich noch zeigen. Möglicherweise erhält der Anspruchsteller in Zukunft Einsicht in Geschäftsunterlagen von Unternehmen, wie Konstruktionsunterlagen und Erkenntnisse aus der Produktbeobachtung. Bei Nichtbefolgung der Offenlegungspflicht droht Prozessverlust aufgrund der Beweisvermutungen, die in Art. 9 der Richtlinie vorgesehen sind.

Ausblick

Der Richtlinie muss noch der Europäische Rat zustimmen. Dabei handelt es sich um eine reine Formalität, da der Rat seine Zustimmung dem Parlament bereits angekündigt hat. Die EU-Produkthaftungsrichtlinie tritt innerhalb von 20 Tagen nach ihrer Verkündung in Kraft. Anschließend muss die EU-Produkthaftungsrichtlinie durch nationale Rechtsakte innerhalb von 24 Monaten umgesetzt werden. Mit deren Geltung ist daher spätestens ab 2026 zu rechnen.

Ausstehend ist noch eine Einigung über die ergänzende „Richtlinie über KI-Haftung“ (nicht zu verwechseln mit der am 13. März 2024 vom EU-Parlament verabschiedeten Verordnung zur Festlegung harmonisierter Vorschriften für künstliche Intelligenz, dem sog. KI-Gesetz). Der Vorschlag der EU-Kommission zur Richtlinie über KI-Haftung vom 28.9.2022 liegt vor. Eine Einigung auf einen finalen Text ist bislang nicht erfolgt. Der Vorschlag zur KI-Haftungsrichtlinie sieht weitere Offenlegungspflichten und Beweisregeln vor.

Wir unterstützen Sie gerne bei der Vorbereitung auf die neue Produkthaftung. Bitte kontaktieren Sie uns, wenn Sie besprechen möchten, wie sich die Reform der Produkthaftung auf Ihr Unternehmen auswirken wird und wie Sie sich vorbereiten können.



 

[1] Richtlinie des europäischen Parlaments und des Rates über die Haftung für fehlerhafte Produkte.

[2] Richtlinie des Rates vom 26. Juli 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte (85/374/EWG).

[3] Teil des Grünen Deals sind u.a. auch die verschärften Anforderungen an Produktdesgin und -verkauf durch die geplante Ökodesign-Verordnung und Recht-auf-Reparatur-Richtlinie sowie die jüngst beschlossene Richtlinie zur Stärkung der Verbraucher für den ökologischen Wandel.

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