Am 18. November 2024 ist die neue EU-Produkthaftungsrichtlinie im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht worden [1]. Das Europäische Parlament hatte die neue EU-Produkthaftungsrichtlinie nach der vorläufigen Einigung im Trilog am 14. Dezember 2023 bereits am 12. März 2024 im Rahmen des Corrigendum-Verfahrens förmlich angenommen. Nach den Europawahlen im Juni 2024 hat das neu gewählte Europäische Parlament die neue EU-Produkthaftungsrichtlinie am 17. September 2024 gebilligt, sodass für den Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens nur noch die Zustimmung des Rates ausstand. Diese Zustimmung hat der Rat am 10. Oktober 2024 erteilt. Die Reform bedeutet eine erhebliche Verschärfung der Produkthaftung für Unternehmen!
Die geltende EU-Produkthaftungsrichtlinie [2], auf der auch das deutsche Produkthaftungsgesetz („ProdHaftG“) beruht, stammt aus dem Jahr 1985. Wenn man sich vor Augen führt, dass das World Wide Web erst 1989 an den Start ging, überrascht es wenig, dass das europäische Produkthaftungsregime im digitalen Zeitalter aus Sicht des europäischen Gesetzgebers ein Update nötig hat.
Die zunehmende Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft bringt neue Technologien mit sich, die für das Produkthaftungsrecht eine Herausforderung darstellen. Zu nennen sind etwa smarte Produkte und Systeme mit künstlicher Intelligenz (KI), die aufgrund ihrer Komplexität, Konnektivität und Datenabhängigkeit die geltenden juristischen Begriffe und Voraussetzungen überfordern. Die Reform soll diese Produkte in das europäische Produkthaftungsrecht einbeziehen und überkommene Rechtsbegriffe anpassen oder erweitern.
Außerdem ist die Reform des EU-Haftungsrechts als Teil der Nachhaltigkeitsstrategie der EU („European Green Deal“) zu verstehen [3]. Geschäftsmodelle einer Kreislaufwirtschaft, bei denen regelmäßig Produkte repariert, recycelt und aufgearbeitet werden, sind das erklärte Ziel der EU-Kommission. Damit stellt sich die Frage nach der Haftung für Produkte, die verändert wurden, nachdem sie auf den Markt gebracht wurden. Die neue EU-Produkthaftungsrichtlinie sieht insoweit vor, dass Unternehmen wie Hersteller haften, wenn sie ein Produkt außerhalb der Kontrolle des ursprünglichen Herstellers so verändert haben, dass die Veränderung als wesentlich gilt, und sie das Produkt anschließend wieder auf den Markt bringen. Dies könnte unter anderem Auswirkung auf die Automobilbranche haben. So besteht beispielsweise für Aufbauhersteller und Start-Ups im Bereich des autonomen Fahrens künftig das Risiko, wie ein Hersteller des gesamten Fahrzeugs zu haften, obwohl sie auf Teile des Fahrzeugs keinen oder nur geringen Einfluss hatten.
Daneben führen Globalisierung und Digitalisierung zu neuen Lieferketten mit modernen Wirtschaftsakteuren (Fulfillment-Dienstleister, E-Commerce-Plattformen), die bislang nicht im Fokus des europäischen Produkthaftungsrechts standen. Die nun beschlossene Richtlinie wird sie zukünftig zu Haftungssubjekten machen.
Zentrales Ziel der Reform ist die Förderung des EU-Binnenmarkts (Art. 1 Abs. 2 der neuen EU-Produkthaftungsrichtlinie). Der europäische Gesetzgeber geht davon aus, dieses Ziel durch ein möglichst hohes Verbraucherschutzniveau zu erreichen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, weshalb die Reform Haftungsbeschränkungen abschafft und Unternehmen substanzielle Haftungs- und Prozessrisiken überbürdet.
Im Folgenden bieten wir einen tabellarischen Überblick über die wichtigsten Reforminhalte. Neben der Ausweitung des Kreises der betroffenen Wirtschaftsakteure justieren die Neuerungen die Haftungsvoraussetzungen (Erweiterung des Produkt-, Fehler- und Schadensbegriffs, Wegfall von Haftungsbeschränkungen). Für Unternehmen sind insbesondere die prozessualen Risiken durch eine längere Verjährungshöchstfrist, neue Offenlegungspflichten und diverse Beweiserleichterungen für Anspruchsteller bedeutsam.
Geltendes EU-Recht (RL 85/374/EWG) |
Neue EU-Produkthaftungsrichtlinie (RL (EU) 2024/2853) |
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Betroffene Wirtschaftakteure
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Grundsatz: Haftung des Herstellers, Quasi-Herstellers oder Importeurs; subsidiär des Lieferanten, wenn ein Hersteller nicht festgestellt werden kann (Art. 1, 3 RL 85/371/EWG; §§1, 4 ProdHaftG) |
1. Stufe:
2. Stufe, wenn der Hersteller seinen Sitz außerhalb der EU hat:
3. Stufe, wenn kein Haftungssubjekt nach Stufe 1 oder Stufe 2 in der EU vorliegt:
(Art. 8) |
Erweiterung des Produktbegriffs |
Produkt ist „jede bewegliche Sache, ausgenommen landwirtschaftliche Naturprodukte und Jagderzeugnisse, auch wenn sie einen Teil einer anderen beweglichen Sache bildet“. Strittig, inwieweit nicht-verkörperte (kein Datenträger, keine Hardware-Software-Kombination) Software erfasst ist. |
„Produkt“ bezeichnet jede bewegliche Sache, auch wenn diese in eine andere bewegliche oder unbewegliche Sache integriert oder damit verbunden ist; unter „Produkt“ sind auch Elektrizität, digitale Konstruktionsunterlagen, Roh-stoffe und Software zu verstehen.“ (Art. 4 Nr. (1)) D.h. ausdrückliche Erweiterung des Produktbegriffs auf:
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Erweiterung des Fehlerbegriffs |
Zentrale Haftungsvoraussetzung ist ein Produktfehler. Ein Produktfehler liegt vor, wenn das Produkt nicht die Sicherheit bietet, die berechtigterweise erwartet werden kann. Dies wird insbesondere anhand der folgenden Umstände ermittelt:
(Art. 6 RL 85/374/EWG; § 3 ProdHaftG) |
Ergänzung des Umstände-Katalogs u.a. um:
(Art. 7) |
Erweiterung des Schadensbegriffs |
„Der Hersteller eines Produkts haftet für den Schaden, der durch einen Fehler dieses Produkts verursacht worden ist" (Art. 1 RL 85/374/EWG; ähnlich § 1 ProdHaftG)
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(Art. 6) |
Wegfall von
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(sonstige Haftungsbeschränkungen: Art. 11) |
Verlängerung der Verjährungshöchstfrist |
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Offenlegungspflicht |
Keine Offenlegungspflicht |
(Art. 9) |
Beweiserleichterungen für Anspruchsteller |
Grundsatz: Beweislast des Geschädigten für Schaden, Fehler und Kausalität. (Art. 4 RL 85/374/EWG; § 1 Abs. 4 ProdHaftG) |
Einführung diverser Beweiserleichterungen für Anspruchsteller, u.a.:
(Art. 10 Abs. 2-5) |
Da die neue EU-Produkthaftungsrichtlinie den Kreis der Haftungssubjekte erheblich ausweitet, müssen gerade solche Unternehmen sich auf potenzielle Schadensersatzansprüche einstellen, die bislang nicht zu den typischen Haftungsschuldnern gezählt haben (verändernde Hersteller, Bevollmächtigte des Herstellers, Fulfillment-Dienstleister, Betreiber von Online-Verkaufsplattformen).
Zwar sind auch nach geltendem Recht Softwareprogramme, die auf einem Datenträger gespeichert sind, Kombinationsprodukte aus Hard- und Software oder industriell hergestellte Standardprogramme von der Produkthaftung erfasst. Gerade für Unternehmen, die smarte Produkte oder KI-Systeme entwickeln oder vertreiben ist zweifelsohne die uneingeschränkte Erweiterung der Produkthaftung auf diese Produkte und die entsprechende Anpassung des Fehlerbegriffs von großer Relevanz.
Für alle Unternehmen werden sich insbesondere die neuen prozessualen Pflichten und Risiken auswirken. Die Offenlegungspflicht („disclosure of evidence“) wird weitreichende Konsequenzen für die Erfolgsaussichten von Haftungsprozessen haben, da sie praktisch zu einer Quasi-Beweislastumkehr führt. Der Anspruchsteller muss unter Umständen nur noch die Plausibilität seines Anspruchs nachweisen. Welcher Maßstab hierfür von den Gerichten angelegt wird, muss sich noch zeigen. Möglicherweise erhält der Anspruchsteller in Zukunft Einsicht in Geschäftsunterlagen von Unternehmen, wie Konstruktionsunterlagen und Erkenntnisse aus der Produktbeobachtung. Bei Nichtbefolgung der Offenlegungspflicht droht Prozessverlust aufgrund der Beweisvermutungen, die in Art. 10 der neuen EU-Produkthaftungsrichtlinie vorgesehen sind.
Die neue EU-Produkthaftungsrichtlinie tritt am 20. Tag nach ihrer Verkündung im Amtsblatt der EU in Kraft. Anschließend muss die neue EU-Produkthaftungsrichtlinie durch nationale Rechtsakte innerhalb von 24 Monaten umgesetzt werden. Mit deren Geltung ist daher spätestens ab dem 4. Quartal 2026 zu rechnen.
Ausstehend ist noch eine Einigung über die ergänzende Richtlinie über KI-Haftung („KI-Haftungsrichtlinie“, nicht zu verwechseln mit der Verordnung (EU) 2024/1689 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juni 2024 zur Festlegung harmonisierter Vorschriften für künstliche Intelligenz, dem sog. KI-Gesetz). Der Vorschlag der EU-Kommission zur Richtlinie über KI-Haftung vom 28.9.2022 liegt vor. Eine Einigung auf einen finalen Text ist bislang nicht erfolgt. Der Vorschlag zur KI-Haftungsrichtlinie sieht weitere Offenlegungspflichten und Beweisregeln vor. Der wissenschaftliche Dienst des Europäischen Parlaments hat in einer am 19. September 2024 veröffentlichten Studie Vorschläge zur Verbesserung dieses Richtlinienvorschlags gemacht, die den Anwendungsbereich der KI-Haftungsrichtlinie erweitern würden. Die Studie könnte dem Gesetzgebungsverfahren zur KI-Haftungsrichtlinie frischen Wind bringen.
Vor dem Hintergrund der verschärften Produkthaftung ist es für Unternehmen empfehlenswert, die neuen Risiken und Verantwortlichkeiten innerhalb der Liefer- und Vertriebsketten zu prüfen und frühzeitig Vertragswerke an die Änderungen der neuen EU-Produkthaftungsrichtlinie anzupassen. Wir unterstützen Sie gerne bei der Vorbereitung auf die neue Produkthaftung. Bitte kontaktieren Sie uns, wenn Sie besprechen möchten, wie sich die Reform der Produkthaftung auf Ihr Unternehmen auswirken wird und wie Sie sich vorbereiten können.