Einrichtungsbezogene Impfpflicht verfassungskonform

Geschrieben von

linus boberg module
Linus Boberg, LL.M.

Associate
Deutschland

Als Rechtsanwalt in der Praxisgruppe Internationales Arbeitsrecht berate ich in- und ausländische Mandanten in allen Fragen des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts.

Das Bundesverfassungsgericht hat eine Verfassungsbeschwerde gegen die einrichtungsbezogene Impfpflicht zurückgewiesen. Die Pflicht sei zwar mit einem intensiven Eingriff in Grundrechte verbunden, der Schutz vulnerabler Menschen vor Corona sei aber vorrangig.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 19. Mai 2022 - Aktenzeichen 1 BvR 2649/21

§ 20a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) verpflichtet Personen, die in bestimmten Einrichtungen oder Unternehmen des Gesundheitswesens tätig sind, seit dem 16. März 2022 der jeweiligen Einrichtungs- oder Unternehmensleitung den Nachweis darüber vorzulegen, dass sie vollständig gegen COVID-19 geimpft oder davon genesen sind. Ausgenommen sind nur Personen mit einer sogenannten medizinischen Kontraindikation (z.B. chronische Erkrankungen oder Allergien).

Wird kein ordnungsgemäßer Nachweis vorgelegt, hat die Einrichtungs- oder Unternehmensleitung unverzüglich das Gesundheitsamt zu benachrichtigen. Das Gesundheitsamt kann dann gegenüber den betroffenen Personen ein Betretungs- oder Tätigkeitsverbot aussprechen (§ 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG). Bei Nichtvorlage des Nachweises droht ein Bußgeld.

Verfassungsbeschwerden von Beschäftigten, Einrichtungen und Patienten

Eine Vielzahl von Verfassungsbeschwerden gegen die einrichtungsbezogene Impfpflicht erreichte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nicht nur von Beschäftigten im Gesundheits- und Pflegebereich, sondern auch von Einrichtungen und Unternehmen des Gesundheitswesens oder der Pflege. Zudem gehörten zu den Beschwerdeführern auch Patienten, die rügten, ihre Behandlung bei nicht geimpften Ärzten oder sonstigen medizinischen Dienstleistern nicht fortsetzen zu können.

Eingriff in die körperliche Unversehrtheit

Die in § 20a IfSG geregelte Nachweispflicht stellt laut dem BVerfG einen zielgerichteten mittelbaren Eingriff in die körperliche Unversehrtheit dar. Zwar setze die COVID-19-Impfung eine vorherige, nach ärztlicher Aufklärung erteilte Einwilligung voraus. Eine Entscheidung gegen die Impfung sei aber mit nachteiligen Konsequenzen verbunden. Die an sich selbstbestimmt zu treffende Impfentscheidung sei deshalb von äußeren, faktischen und rechtlichen Zwängen bestimmt. Wer ungeimpft bleiben wolle, müsse bei der Fortsetzung der Tätigkeit mit einer bußgeldbewehrten Nachweisanforderung oder einem bußgeldbewehrten Betretungs- oder Tätigkeitsverbot in den in § 20 a IfSG genannten Einrichtungen und Unternehmen rechnen. Alternativ bleibe nur die Aufgabe des ausgeübten Berufs, ein Wechsel des Arbeitsplatzes oder jedenfalls der bislang ausgeübten Tätigkeit.

Schutz vulnerabler Menschen rechtfertigt Eingriff

Das BVerfG stellt fest, dass der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Gesundheits- und Pflegepersonals zum Schutz besonders vulnerabler gerechtfertigt sei. Für bestimmte Personen bestehe aufgrund ihres Gesundheitszustandes und/oder ihres Alters nicht nur ein erhöhtes Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf. Gerade bei älteren und immunsupprimierten Personen bestehe ein erhöhtes Risiko für eine Infektion, weil sie auf eine Impfung weniger gut ansprächen. Der Schutz dieser besonders vulnerablen Gruppen vor einer Infektion mit dem Coronavirus stelle einen legitimen Zweck für die Einführung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht dar. Diese sei auch geeignet, zum Schutz des Lebens und der Gesundheit vulnerabler Menschen beizutragen. Zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Gesetzes sei eine deutliche fachwissenschaftliche Mehrheit davon ausgegangen, dass sich geimpfte und genesene Personen seltener mit dem Coronavirus infizieren und daher das Virus seltener übertragen können. Zudem sei angenommen worden, dass Geimpfte weniger und kürzer infektiös sind als nicht Geimpfte.

Nachweispflicht verhältnismäßig

Zwar stelle die Regelung des § 20a IfSG die Betroffenen de facto vor die Wahl, entweder ihre bisherige Tätigkeit aufzugeben oder aber in die Beeinträchtigung ihrer körperlichen Integrität einzuwilligen. Insoweit sei die Berufsfreiheit der im Gesundheits- und Pflegebereich tätigen betroffen.

Diesem Eingriff in die körperliche Unversehrtheit und die Berufsfreiheit seien jedoch Verfassungsgüter mit überragendem Stellenwert gegenüberzustellen. Den Gesetzgeber treffe eine staatliche Schutzpflicht gegenüber vulnerablen Personen. Die Anforderungen an diese Schutzpflicht hätten sich im Rahmen der vierten Infektionswelle Anfang Dezember 2021 erhöht. Zu dieser Zeit habe eine erhöhte Infektionswahrscheinlichkeit bestanden, die sich besonders zum Nachteil vulnerabler Menschen ausgewirkt habe, weil diese entweder gar nicht oder nur eingeschränkt in der Lage seien, ihr Infektionsrisiko durch eine Impfung selbst zu reduzieren. 

Kein unzumutbares Impfrisiko für Betroffene

Nach dem BVerfG bestehen aus verfassungsrechtlicher Sicht auch keine durch die Impfung begründeten unzumutbaren Gesundheitsrisiken für das von § 20a IfSG betroffene Gesundheits- und Pflegepersonal. Schwerwiegende Nebenwirkungen oder gravierende Folgen, die über die Immunantwort hinausgehen, seien sehr selten. Sie würden zudem insbesondere vom Paul-Ehrlich-Institut fortlaufend beobachtet und evaluiert.

In die Abwägung sei maßgebend aber auch die besondere Schutzbedürftigkeit derjenigen einzustellen, deren Schutz der Gesetzgeber beabsichtigt. Vulnerable Menschen könnten sich vielfach weder selbst durch eine Impfung wirksam schützen noch den Kontakt zu den im Gesundheits- und Pflegebereich tätigen Personen vermeiden, weil sie auf deren Leistungen typischerweise angewiesen seien. Der sehr geringen Wahrscheinlichkeit von gravierenden Folgen einer Impfung stehe im Ergebnis die deutlich höhere Wahrscheinlichkeit einer Beschädigung von Leib und Leben vulnerabler Menschen gegenüber.

Omikron rechtfertigt keine andere Beurteilung

Die weitere Entwicklung des Pandemiegeschehens nach Verabschiedung des Gesetzes begründet laut BVerfG keine abweichende Beurteilung. Es habe keine neuen Entwicklungen oder besseren Erkenntnisse gegeben, die geeignet wären, die ursprünglichen Annahmen des Gesetzgebers durchgreifend zu erschüttern. Es sei weiterhin davon auszugehen, dass eine Impfung jedenfalls einen relevanten – wenn auch mit der Zeit abnehmenden – Schutz vor einer Infektion auch mit der aktuell vorherrschenden Omikronvariante des Virus bietet. Auch die pandemische Gefährdungslage habe sich nicht in einem Ausmaß entspannt, dass damit eine deutlich verringerte Schutzbedürftigkeit vulnerabler Personen und eine entsprechend zu ihren Ungunsten ausfallende verfassungsrechtliche Güterabwägung einherginge.

Praxishinweis

Die einrichtungsbezogene Impfpflicht gilt inzwischen seit mehr als zwei Monaten. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist klar, dass sie jedenfalls bis zum 31. Dezember 2022 weitergelten wird. Medienberichten zufolge gab es im April mehr als 47.000 Verstöße gegen die Impfpflicht. Den Berichten zufolge wollten die Gesundheitsämter jedoch erst ab Mitte Mai Bußgelder verhängen oder Betretungs- und Tätigkeitsverbote aussprechen.

Arbeitgeber von Beschäftigten im Gesundheits- und Pflegebereich sollten sich daher – sofern nicht bereits geschehen – zeitnah einen Überblick darüber verschaffen, welche Beschäftigten oder welche in ihrer Einrichtung tätig werdende Personen unter die Nachweispflicht fallen und sich die entsprechenden Nachweise vorlegen zu lassen. Gleichzeitig sollte ein Verfahren zur Kontrolle der Nachweise implementiert und bei Neueinstellungen die Nachweiskontrolle in das Einstellungsverfahren integriert werden.

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