Ist die Vertrauensarbeitszeit ausgestempelt?

Geschrieben von

karina bischoff Module
Dr. Karina Bischoff

Associate
Deutschland

Als Senior Associate im Bereich Internationales Arbeitsrecht in Düsseldorf berate ich in- und ausländische Mandanten in allen Bereichen des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts.

Die mit Spannung erwartete Urteilsbegründung des BAG -Beschlusses vom 13. September 2022 – 1 ABR 22/21 liegt vor- was Arbeitgeber:innen wissen und beachten müssen:

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 13. September 2022 - Aktenzeichen 1 AZR 22/21

Das BAG vertritt die Auffassung, dass Arbeitgeber:innen verpflichtet sind, ein (nicht notwendigerweise elektronisches) System zur Arbeitszeiterfassung einzuführen, dass Beginn, Ende und die Dauer der geleisteten Arbeitszeit von Arbeitnehmer:innen einschließlich der Überstunden (Mehrarbeit) erfasst.

Dem Beschluss des BAG ist die Entscheidung des EuGHs – C – 55/18 vom 14. Mai 2019 vorausgegangen, die bereits eine verpflichtende Zeiterfassung als Arbeitsschutzmaßnahme begründet hatte. Hintergrund ist das sich aus Art. 31 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta ergebende Grundrecht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten. Diese unionsrechtskonforme Auslegung wendet das BAG nun auf § 3 Abs. 2 ArbSchG an.

Arbeitszeiterfassung - Was gilt als Arbeitszeit und was meint "Erfassung"?

Arbeitgeber:innen müssen Lage, Beginn, Dauer und Ende der Arbeitszeit tatsächlich erfassen. Daraus dürfte folgen, dass die Netto-Arbeitszeit zu erfassen ist.

Das BAG weist ausdrücklich darauf hin, dass eine bloße Erhebung der Daten nicht genügt, sie müssen gespeichert und überprüfbar sein.

Allerdings haben Arbeitgeber:innen, solange noch keine konkretisierende gesetzliche Regelung besteht, einen Gestaltungsspielraum hinsichtlich der Ausgestaltung des Zeiterfassungssystems. So ist eine elektronische Erfassung nicht zwingend vorgegeben und auch eine Delegation der Aufzeichnung an die Arbeitnehmer:innen möglich.

Voraussetzung ist jedoch, dass das eingesetzte System entsprechend den Vorgaben des EuGH „objektiv, verlässlich und zugänglich“ ist, sodass es nach den Umständen und Eigenheiten des Betriebs bzw. der Tätigkeitsbereiche geeignet ist, den Schutz der Arbeitnehmer:innen zu gewährleisten.

Daraus begründet sich auch, dass die bloße Bereitstellung eines Zeiterfassungssystems durch Arbeitgeber:innen mit der freigestellten Verwendung durch Arbeitnehmer:innen nicht genügt. Zu der Verpflichtung gehört die Kontrolle durch die Arbeitgeber:innen dahingehend, dass das Zeiterfassungssystem auch tatsächlich ordnungsgemäß genutzt wird.

Arbeitszeiterfassung für alle?

Die Verpflichtung der Arbeitgeber:innen bezieht sich grundsätzlich auf alle in ihrem Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer:innen i.S.d. § 5 Abs. 1 S. 1 BetrVG.

Ausnahmen bestehen allerdings entsprechend Art. 17 Abs. 1 Arbeitszeit-Richtlinie – in deutsches Recht in §§ 18 bis 21 ArbZG umgesetzt - insbesondere für leitende Angestellte, weil ihre Arbeitszeit wegen besonderer Merkmale ihrer Tätigkeit nicht bemessen werden kann.

Ab wann gilt die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung?

Kurzum: ab sofort.

Aus der Begründung des BAG folgt, dass Arbeitgeber:innen nicht erst seit dem Beschluss im September 2022 dazu verpflichtet sind, Arbeitszeiten zu erfassen. Diese Verpflichtung bestand bereits vorher, die europäischen Vorgaben des Arbeitszeitrechts wurden bislang nur nicht richtig in Deutschland umgesetzt. Somit bedarf es auch keiner Gesetzesänderung – die Verpflichtung resultiert unmittelbar aus den Regelungen zum Arbeitsschutz.

Und was ergibt sich daraus für den Betriebsrat? 

Dem BAG Urteil liegt das Begehren eines Betriebsrats zugrunde, gerichtlich festzustellen, dass er ein – notfalls über den Spruch der Einigungsstelle – durchsetzbares Initiativrecht zur Einführung und Verwendung eines elektronischen Zeiterfassungssystems im Betrieb habe.

Hinsichtlich des „Ob“ der Arbeitszeiterfassung hat das BAG dem Betriebsrat unter Verweis auf § 87 Abs. 1 Hs. 1 BetrVG in Angesicht der gesetzlichen Verpflichtung von Arbeitgeber:innen in § 3 Abs. 2 ArbSchG eine Absage erteilt.

Für das „Wie“ der Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung spricht das BAG Betriebsräten allerdings – vorbehaltlich künftiger anderweitiger gesetzlicher Regelungen – ein Mitbestimmungsrecht gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG i.V.m. § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG zu. Eine Beschränkung des Initiativrechts auf die Einführung eines elektronischen Systems – wie vorliegend vom Betriebsrat gefordert – lehnt es allerdings unter Verweis auf den Normcharakter der arbeitsschutzrechtlichen Rahmenvorschrift und den zu beachtenden unionsrechtlichen Vorgaben ab.

Wie geht es weiter?

Das BAG betont den Gestaltungsspielraum der Mitgliedsstaaten, der ihnen in dem Urteil des EuGHs bei der Festlegung der konkreten Modalitäten zur Umsetzung eines Arbeitszeiterfassungssystems zugebilligt wird. Es bleiben auch nach der Urteilsbegründung des BAG jedenfalls viele Fragen offen, mit denen sich der deutsche Gesetzgeber auseinandersetzen muss.

Die Vertrauensarbeitszeit, die ausweislich des Koalitionsvertrags der Ampel-Regierung erhalten bleiben soll, um flexible Arbeitszeitmodelle zu ermöglichen, ist so jedenfalls nicht mehr möglich.

Wird eine ausnahmsweise Überschreitung der Arbeitszeit von 12 Stunden möglich werden? Wird es eine Wochen-/Monatsarbeitszeit geben? Sind spezielle Regelung für Mobiles arbeiten geplant? Soll es Ausnahmen für bestimmte Branchen geben? Beschränkt sich die Flexibilität der Arbeitnehmer:innen künftig lediglich darauf entscheiden zu können, wann sie am Tag arbeiten?

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat angekündigt, den bereits jetzt bestehenden Entwurf zur Novelle ArbZG in einigen Wochen, spätestens im ersten Quartal 2023 zu veröffentlichen. Erst dieser Gesetzesentwurf wird mehr Klarheit dazu geben können, wie die Arbeitszeiterfassung im Einzelnen ausgestaltet sein soll.

Praxishinweis

Wer nun befürchtet, ab dem morgigen Tag morgens ein:e Arbeitnehmer:in mit Stift und Papier in den Eingangsbereich beordern zu oder dutzende Rundmails mit Exceltabellen zum eigenständigen Eintragen der Arbeitszeit erstellen zu müssen, kann vorerst durchatmen. Nach dem derzeitigen Stand führt ein Verstoß gegen die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung für Arbeitgeber:innen aus § 3 Abs. 2 Nr.1 ArbSchG nicht unmittelbar zu Sanktionen. Verstöße gegen die Norm sind nicht nach § 25 ArbSchG mit Bußgeld bewehrt, sodass es erst bei einem Verstoß gegen eine konkrete behördliche Anordnung zu Sanktionen kommen kann (§ 22 Abs. 2 ArbSchG).

Dennoch ist Arbeitgeber:innen zu empfehlen, sich bereits jetzt Gedanken zur Einführung und Umsetzung eines Zeiterfassungssystems zu machen: Elektronische oder manuelle Zeiterfassung? Welches System passt am besten und praktikabelsten in den Betrieb? Zentrale Erfassung durch die Arbeitgeber:in oder Delegation an die einzelnen Arbeitnehmer:innen ? Wie und in welchem Turnus können Kontrollen durchgeführt werden? Installation einer HR-Software oder die Nutzung von Apps? Was ist datenschutzrechtlich zu bedenken? Gibt es einen Betriebsrat, mit dem die Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung gegebenenfalls abgestimmt werden müsste?

Vorerst bleibt wohl nur ein Abwarten auf den Gesetzesentwurf – es bleibt also spannend.

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