Restrukturierungen und Massenentlassungen – Eine Fehlerquelle weniger?

Geschrieben von

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Benjamin Karcher

Counsel
Deutschland

Als Counsel und Fachanwalt für Arbeitsrecht in unserer Praxisgruppe Internationales Arbeitsrecht in Düsseldorf berate ich in- und ausländische Mandanten in allen Bereichen des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts.

Angesichts zahlreicher Restrukturierungen, zu denen wir derzeit beraten und infolge von hoffnungsvollen Signalen aus Erfurt zum Thema der Massenentlassungsanzeige (und damit verbundener Fehlerquellen), widmet sich dieser Beitrag in der gebotenen Kürze den aktuellen Entwicklungen bei Massenentlassungen und einem Hoffnungsschimmer am Horizont.

Obwohl die gesetzlichen Anforderungen einer Massenentlassungsanzeige nach § 17 KSchG auf den ersten Blick überschaubar zu sein scheinen, sind die einzelnen Voraussetzungen maßgeblich durch umfangreiche und sich ständig ändernde (ausufernde) Rechtsprechung geprägt; dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass die §§ 17 ff. KSchG der Europäischen Massenentlassungsrichtlinie (MERL) entspringen, und somit auch an europäischen Maßstäben zu messen sind, während das BAG jedoch bisher deutlich weiter ging als die europäischen Anforderungen erforderten.

Nichtigkeit der Kündigung?

Sofern die Voraussetzungen und Schwellenwerte einer Massenentlassung vorlagen und eine Massenentlassungsanzeige erforderlich war, führte bisher das Versäumen einer ordnungsgemäßen Massenentlassungsanzeige und Beachtung aller von der Rechtsprechung (teils fragwürdig) weiterentwickelten Formalien zur Unwirksamkeit ausgesprochener Kündigungen.

Diesem Trend stellen sich nun Teile des BAG offen entgegen und fordern eine – begrüßenswerte – Korrektur einer unnötigen formaljuristischen Auslegung des KSchG (aus BAG, Beschluss vom 1.2.2024 – 2 AS 22/23):

„Der Zweite Senats des Bundesarbeitsgerichts hat bisher angenommen, dass eine ohne notwendige vorherige Massenentlassungsanzeige erklärte Kündigung nichtig (unwirksam) ist und das Arbeitsverhältnis deshalb nicht beendet werden kann. Demgegenüber möchte der Sechste Senat künftig die Auffassung vertreten, dass das Fehlen oder die Fehlerhaftigkeit einer nach Unionsrecht oder nationalem Recht erforderlichen Massenentlassungsanzeige keinen rechtlichen Einfluss auf die Entscheidung über die Beendigung eines gekündigten Arbeitsverhältnisses hat. Vielmehr soll sowohl das Fehlen einer Massenentlassungsanzeige als auch deren Fehlerhaftigkeit gänzlich folgenlos bleiben. Es obliege dem deutschen Gesetzgeber, eine „Sanktion“ für Fehler im Anzeigeverfahren bei Massenentlassungen zu normieren. Diese dürfe nicht auf dem Gebiet des Arbeitsrechts, sondern müsse allein auf dem Gebiet des Arbeitsförderungsrechts liegen (BAG 14.12.2023 – 6 AZR 157/22)“.

Dabei tritt ein Disput zwischen dem zweiten und sechsten Senat zu Tage, der, nachdem das BAG die Thematik nun dem EUGH vorlegte, vom EUGH entschieden werden soll (BAG, Beschluss vom 01.02.2024 – 2 AS 22/23).

Das BAG (insb. der sechste Senat) möchte demnach die bisherige Rechtsprechung aufgeben, wonach eine im Rahmen einer Massenentlassung ohne vorherige Anzeige gemäß § 17 abs. 1 KSchG erklärte Kündigung nach § 134 BGB nichtig ist. Dies ist seitens der Unternehmen ausdrücklich zu begrüßen, da der Schutzzweck der Massenentlassungsanzeige praktisch nichts mit dem individuellen Arbeitsverhältnis zu tun hat.

Vorlagefragen

Konkret wird der EUGH nun gemäß Art. 267 AEUV um die Beantwortung der folgenden Fragen ersucht:

  1. Ist Art. 4 I RL 98/59/EG des Rates vom 20.07.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (im Folgenden MERL) dahin auszulegen, dass eine Kündigung im Rahmen einer anzeigepflichtigen Massenentlassung das Arbeitsverhältnis eines betroffenen Arbeitnehmers erst beenden kann, wenn die Entlassungssperre abgelaufen ist? Sofern die erste Frage bejaht wird:
  2. Setzt das Ablaufen der Entlassungssperre nicht nur eine Massenentlassungsanzeige voraus, sondern muss diese den Vorgaben in Art. 3 I UAbs. 4 MERL genügen?
  3. Kann der Arbeitgeber, der anzeigepflichtige Kündigungen ohne (ordnungsgemäße) Massenentlassungsanzeige ausgesprochen hat, eine solche mit der Folge nachholen, dass nach Ablaufen der Entlassungssperre die Arbeitsverhältnisse der betreffenden Arbeitnehmer durch die bereits zuvor erklärten Kündigungen beendet werden können? Sofern die erste und die zweite Frage bejaht werden:
  4. Ist es mit Art. 6 MERL vereinbar, wenn das nationale Recht es der zuständigen Behörde überlässt, für den Arbeitnehmer unanfechtbar und für die Gerichte für Arbeitssachen bindend festzustellen, wann die Entlassungssperre im konkreten Fall abläuft, oder muss dem Arbeitnehmer zwingend ein gerichtliches Verfahren zur Überprüfung der Richtigkeit der behördlichen Feststellung eröffnet sein?

Auswirkungen für die Praxis

Wenngleich die wünschenswerte, finale Klarheit mit dieser Anfrage an den EUGH bis zu dessen Beantwortung weiter auf sich warten lässt, schlägt die angedeutete Trendwende des BAG in der arbeitsgerichtlichen Praxis bereits hohe Wellen. Die Literatur begrüßt die angedeutete Richtung überwiegend und nicht wenige Arbeitsrichter lassen zumindest im Rahmen von Güteverhandlungen bereits erkennen, dass reine formal Angriffe gegen Massenentlassungsanzeigen womöglich nicht mehr zum Erfolg der klagenden Arbeitnehmer führen. 

Wenngleich gut beratene Arbeitgeber weiterhin alle Formalien einer Massenentlassungsanzeige beachten sollten, fällt doch auf, dass im Rahmen von Vergleichsverhandlungen zumindest ein Schwert von Arbeitnehmervertretern stumpfer wird. Angesichts der Tendenzen des BAG im Rahmen der aktualisierten Annahmeverzugslohnrechtsprechung und der zu begrüßenden Linie des LAG Düsseldorf, welches im Rahmen von (auch verspäteten) Datenschutzauskünften keinen grundsätzlichen Schadensersatzanspruch erkennt, werden derzeit offenbar einige der ausufernden Verhaltensweisen der Vergangenheit vorsichtig zurückgedreht.

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