Streit über Rechtsfolgen einer fehlerhaften Massenentlassungsanzeige

Geschrieben von

Henry Nicolai

Associate
Deutschland

Als Spezialist für Arbeitsrecht in unserem Hamburger Büro und Mitglied der Praxisgruppe Internationales Arbeitsrecht berate ich in allen Bereichen des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts.

Der Zweite und der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts erwägen übereinstimmend die bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG), wonach eine fehlerhafte oder fehlende Massenentlassungsanzeige gem. § 17 Abs. 1 und 3 KSchG zur Nichtigkeit (Unwirksamkeit) der erklärten Kündigung nach § 134 BGB führt, aufzugeben. Es besteht jedoch Uneinigkeit über die Rechtsfolge einer fehlerhaften oder fehlenden Massenentlassungsanzeige. Beide Senate haben dem EuGH diesbezüglich Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.

Vorlagebeschluss an den Zweiten Senat des BAG und Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH

In drei Kündigungsschutzverfahren, die parallel vor dem Sechsten Senat des BAG verhandelt werden, streiten die Arbeitsvertragsparteien jeweils über die Beendigung ihrer Arbeitsverhältnisse durch ordentliche Kündigungen. In zwei Rechtsstreiten hatte es der Arbeitgeber versäumt, der Agentur für Arbeit nach § 17 Abs. 3 KSchG eine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat zuzuleiten oder den Stand der Verhandlungen mit dem Betriebsrat darzulegen (6 AZR 152/22 (A) und 6 AZR 155/21). Im dritten Rechtsstreit wurde trotz Anzeigepflicht gem. § 17 Abs. 1 KSchG keine Massenentlassungsanzeige erstattet (6 AZR 157/22 (A)).

Der Sechste Senat hat beim Zweiten Senat des BAG angefragt, ob dieser an seiner bisherigen Rechtsauffassung zur Nichtigkeit (Unwirksamkeit) einer erklärten Kündigung bei fehlender oder fehlerhafter Massenentlassungsanzeige festhält (Vorlagebeschluss vom 14. Dezember 2023 – 6 AZR 157/22 (B); Sehen Sie hierzu den Beitrag meines Kollegen Christoph Lutz). Der Zweite Senat erwägt an seiner bisherigen Rechtsauffassung nicht weiter festzuhalten und hat sich hinsichtlich der Rechtsfolgen einer fehlerhaften oder fehlenden Massenentlassungsanzeige an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) gewandt (Vorlagebeschluss vom 1. Februar 2024 – 2 AS 22/23; Sehen Sie hierzu den Beitrag meines Kollegen Benjamin Karcher).

Der Sechste Senat hat sich nun ebenfalls per Vorlagebeschluss vom 23. Mai 2024 (6 AZR 152/22 (A)) an den EuGH gewandt. Der Sechste Senat hat in seinem eigenen Vorlagebeschluss ausgeführt, dass er den Vorlagebeschluss des Zweiten Senats vom 1. Februar 2024 schon für unzulässig hält, weil der dem Verfahren zu Grunde liegende Rechtsstreit beim Sechsten Senat anhängig ist. Zwar sind sich der Zweite und Sechste Senat zumindest darüber einig, dass Fehler im Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat gem. § 17 Abs. 2 KSchG (z.B. eine unterlassene Anhörung des Betriebsrates) nach wie vor zur Nichtigkeit (Unwirksamkeit) der Kündigung gem. § 134 BGB führen. Der Sechste Senat vertritt jedoch eine andere Auffassung zu den Rechtsfolgen einer fehlerhaften oder fehlenden Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1 und 3 KSchG.

Streit über Rechtsfolgen

Der Zweite Senat vertritt die Auffassung, dass zwischen einer fehlerhaften und einer fehlenden Massenentlassungsanzeige zu unterscheiden ist. 

Bei einer lediglich fehlerhaften Massenentlassungsanzeige komme es auf die Entscheidung der Agentur für Arbeit an. Die Agentur für Arbeit sei nach dem Amtsermittlungsgrundsatz nach § 20 SGB X verpflichtet, die Anzeige zu prüfen und auf die Ergänzung unvollständiger Angaben hinzuwirken. Wenn die Behörde jedoch den Ablauf der Entlassungssperre nach § 18 Abs. 1 und 2 KSchG zu einem konkreten Datum feststelle, sei diese Entscheidung aus Sicht des Zweiten Senats für den Arbeitnehmer unanfechtbar und für die Gerichte für Arbeitssachen bindend. Dies hätte zur Folge, dass sich der Arbeitnehmer im Kündigungsschutzverfahren nicht mehr auf die Fehlerhaftigkeit der Massenentlassungsanzeige berufen könnte.

Nachholung einer fehlerhaften Massenentlassungsanzeige möglich?

Bei einer fehlenden Massenentlassungsanzeige solle das Arbeitsverhältnis nach Auffassung des Zweiten Senats hingegen erst dann wirksam enden, wenn die Massenentlassungsanzeige nachgeholt worden ist. Eine nach § 17 Abs. 1 KSchG anzeigepflichtige Entlassung wird gem. § 18 Abs. 1 KSchG grundsätzlich erst nach Ablauf eines Monats wirksam (sog. Entlassungssperre). Die Agentur für Arbeit kann zudem gem. § 18 Abs 2 KSchG bestimmen, dass die Entlassungssperre auf zwei Monate verlängert wird. Der Zweite Senat beruft sich daher darauf, dass bei einer anzeigepflichtigen Massenentlassung das Arbeitsverhältnis erst nach Ablauf der Entlassungssperre gem. § 18 Abs. 1 oder 2 KSchG enden könne. Die Entlassungssperre könne jedoch erst dann an- und damit ablaufen, wenn eine Massenentlassungsanzeige erstattet wurde. Erst durch eine Nachholung der Massenentlassungsanzeige werde die Entlassungssperre in Lauf gesetzt. Das gekündigte Arbeitsverhältnis bestehe bis zum Ablauf der Entlassungssperre mit seinen bisherigen Rechten und Pflichten fort. Der Arbeitgeber müsse in der Folge jedenfalls bis zum in Lauf setzen und anschließenden Ablauf der Entlassungssperre nach § 615 BGB die vereinbarte Vergütung fortzahlen, auch wenn er den Arbeitnehmer nicht mehr beschäftigt.

Der Sechste Senat widerspricht dieser Auffassung des Zweiten Senats. Nach Auffassung des Sechsten Senats könne eine fehlende Massenentlassungsanzeige nicht nachgeholt werden. Zweck der Massenentlassungsanzeige sei es, dass die Agentur für Arbeit vor Zugang der Kündigung ergründen könne, welche Möglichkeiten bestehen, die negativen Folgen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu begrenzen. Dies sei bei einer Nachholung der Anzeige nach bereits erfolgtem Zugang der Kündigung nicht mehr möglich. Zudem würde die Beendigungswirkung der Kündigung unabsehbar hinausgeschoben. Fehler der Anzeige und in der Folge der Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses würden regelmäßig in einem Gerichtsverfahren erst nach erheblicher Zeit festgestellt werden.

Vorschlag: Verlängerung der Kündigungsfrist als Sanktion 

Der Sechste Senat ist der Auffassung, dass die Sanktionen für Fehler im Anzeigeverfahren nach § 17 Abs. 1 und 3 KSchG vom Gesetzgeber gesetzt werden müssen. Da der deutsche Gesetzgeber bisher keine entsprechende Sanktion normiert hat, müsse bis zum Handeln des Gesetzgebers eine Sanktion durch die Rechtsprechung gefunden werden. Der Sechste Senat schlägt hier eine Hemmung der Kündigungsfrist für die Dauer der Entlassungssperre nach § 18 Abs. 1 oder 2 KSchG vor. Bei fehlerhafter Massenentlassungsanzeige sei die Kündigungsfrist für einen Monat und bei fehlender Anzeige für zwei Monate zu hemmen. Die Wirksamkeit der Massenentlassungsanzeige und dem zu Folge die Hemmung der Kündigungsfrist könnte dann durch den einzelnen Arbeitnehmer im Kündigungsschutzprozess gerichtlich überprüft werden. Dies würde in der Praxis dazu führen, dass Arbeitgeber nach § 615 BGB die vereinbarte Vergütung für einen bzw. für zwei weitere Monate fortzahlen müsste, auch wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht mehr beschäftigt.

Urteil des Sechsten Senats des BAG vom 23. Mai 2024, 6 AZR 155/21

Der Sechste Senat hat im Verfahren 6 AZR 155/21, trotz der beiden in den Parallelverfahren 6 AZR 152/22 (A) und 6 AZR 157/22 (A) beim EuGH anhängigen Vorabentscheidungsverfahren, mit Urteil vom 23. Mai 2024 entschieden, dass ein Verstoß des Arbeitgebers gegen die Übermittlungspflicht gemäß § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG nicht zur Unwirksamkeit der im Rahmen einer Massenentlassung erklärten Kündigung führt. Der Sechste Senat argumentiert, dass er trotz des anhängigen Vorabentscheidungsverfahren des Zweiten Senats entscheiden durfte, weil Klärungsbedarf nur für mögliche Rechtsfolgen von Fehlern im Anzeigeverfahren bestehe. Aus Sicht des Sechsten Senats ist die Übermittlungspflicht ungeachtet ihrer systematischen Verortung in § 17 Abs. 3 KSchG jedoch Teil des Konsultationsverfahrens. Da die Übermittlungspflicht an die Agentur für Arbeit nach § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG anders als die Konsultationspflicht mit dem Betriebsrat nach § 17 Abs. 2 KSchG keine Verbotsnorm darstelle, führe der Verstoß vorliegend nicht zur Nichtigkeit der Kündigung nach § 134 BGB. Welche Sanktion die fehlerhafte Massenentlassungsanzeige in dem Fall hat, hat der Sechste Senat nicht entschieden. Dies erscheint im Hinblick auf die eigenen Ausführungen im Vorlagebeschluss vom 23. Mai 2024 (6 AZR 152/22 (A)) widersprüchlich. Der Sechste Senat hat im Vorlagebeschluss für Fehler im Anzeigeverfahren vorgeschlagen, dass die Kündigungsfrist für einen Monat gehemmt werden sollte, da ansonsten Fehler im Anzeigeverfahren gänzlich folgenlos bleiben würden. Warum dies nicht auch bei einem Verstoß gegen die Mitteilungspflicht aus § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG gelten soll, ist nicht nachvollziehbar. Auch bei einem Verstoß gegen die Mitteilungspflicht wäre ein Verstoß ansonsten folgenlos. Konsequenterweise hätte der Sechste Senat daher auch hier eine Entscheidung des EuGH abwarten müssen. Den eigenen Vorlagebeschluss im Parallelverfahren 6 AZR 152/22 (A) nimmt der Sechste Senat nicht in Bezug.

Auswirkungen für die Praxis

Massenentlassungsanzeige lässt weiter auf sich warten. Es lässt sich jedoch festhalten, dass sich die Anzeichen für einen Rechtssprechungswechsel verdichten. Die Senate des Bundesarbeitsgerichts scheinen sich zumindest einig, dass eine fehlerhafte oder fehlende Massenentlassungsanzeige nicht mehr zur Nichtigkeit der Kündigung führt. Dies ist aus Arbeitgebersicht zu begrüßen.

Unabhängig von den Entscheidungen des EuGH und der beiden Senate des BAG wird eine fehlerhafte oder fehlende Massenentlassungsanzeige jedoch auch zukünftig zu Sanktionen für den Arbeitgeber führen. Daher ist auch zukünftig nicht nur im Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat nach § 17 Abs. 2 KSchG, sondern auch im Anzeigeverfahren bei der Agentur für Arbeit nach § 17 Abs. 1 und 3 KSchG höchste Vorsicht und größtmögliche Sorgfalt geboten.

 

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