Die Grenze zwischen (umsatzsteuerpflichtigen) Schönheitsoperationen und (umsatzsteuerfreien) Heileingriffen ist fließend. Dies zeigt auch das aktuelle Urteil des BFH vom 25.09.2024 (Az.: XI R 17/21), in dem dieser über einen Rechtsstreit zwischen einem Facharzt für Chirurgie und der Finanzverwaltung entschied.
Dieser Chirurg führte als Inhaber einer auf die Behandlung von Haarausfall (Alopezie) spezialisierten Praxis unter anderem Haarwurzeltransplantationen bei Patienten durch. Die Ursachen für Haarausfall sind zahlreich. In der Medizin wird dabei grob zwischen den vernarbenden und den nicht-vernarbenden Formen unterteilt. Vernarbende bzw. narbige Alopezie führt dazu, dass aufgrund einer Entzündung die Haarfolikel (haarwurzelumgebende Struktur) vernarben. Bei den nicht-vernarbenden Formen existieren verschiedene Ursachen. Längst nicht jede Art von Haarausfall lässt sich mittels Transplantation behandeln, so z.B., wenn dieser auf einer Autoimmunerkrankung beruht (sog. kreisrunder Haarausfall).
Der besagte Facharzt verbuchte alle Transplantationsleistungen als umsatzsteuerfreie Heilbehandlungen gemäß § 4 Nr. 14 Bst. a) UStG. Im Rahmen einer Betriebsprüfung versagte das Finanzamt ihm jedoch diese Steuerbefreiung für die Behandlung von androgenetischer und hereditärer Alopezie (beides Unterarten der nicht-vernarbenden Formen von Haarausfall). Als androgenetische Alopezie bezeichnet man den altersbedingten Haarausfall, unter dem viele Männer, aber auch manche Frauen leiden. Unter hereditärer Alopezie versteht man den erblich bedingten Haarausfall. Alle diese Formen von Haarausfall werden von der WHO als Krankheiten bzw. Diagnosen im ICD 10 anerkannt. Der Fall landete schließlich beim FG Düsseldorf und danach beim BFH.
§ 4 Nr. 14 Bst. a) UStG beruht auf Art. 132 Abs. 1 Bst. c) MwStSystRL und befreit
von der Umsatzsteuer.
Grund für die Steuerbefreiung ist, dass die Kosten für gesundheitliche Maßnahmen möglichst niedrig bleiben sollen. Es handelt sich wie bei den meisten Besteuerungsausnahmen im UStG um eine sog. unechte Steuerbefreiung. Bei einer solchen hat der Unternehmer keinen Vorsteuerabzug auf diejenigen Eingangsleistungen anderer Unternehmer, die sich seinen Ausgangsumsätzen entweder direkt oder anteilig nach einem Schlüssel zuordnen lassen.
In dem vom BFH zu entscheidenden Fall war lediglich strittig, ob das Merkmal der „Heilbehandlung“ erfüllt ist.
Der Begriff der Heilbehandlung ist durch das Unionsrecht geprägt. Nach der EuGH-Definition sind Heilbehandlungen Leistungen, die der Diagnose, der Behandlung und, soweit möglich, der Heilung von Krankheiten oder Gesundheitsstörungen – sprich: einem therapeutischen Zweck – dienen (Rn. 16 des BFH-Urteils).
Zwar werden Steuerbefreiungen eng ausgelegt. Im Kontext von Heilbehandlungen ist die Rechtsprechung allerdings etwas großzügiger: Zum einen können auch prophylaktische Maßnahmen (Vorsorge) erfasst sein. In diesen Fällen besteht (noch) gar keine Krankheit bzw. Gesundheitsstörung. Zum anderen werden auch manche rekonstruktive Maßnahmen als Heilbehandlungen angesehen (Rn 23 des BFH-Urteils). Dies betrifft beispielsweise Prothesen für fehlende Körperteile. Die „Heilung“ im medizinischen Sinne wäre genau genommen, das Körperteil nachwachsen zu lassen. Dies ist medizinisch derzeit leider noch nicht möglich. Eine Prothese gleicht jedoch den mit dem fehlenden Körperteil verbundenen Mangel aus.
Da die Haare auch Körperteile darstellen, sind Haartransplantationen als rekonstruktive Maßnahmen anzusehen. Allerdings kommt es nun darauf an, ob durch den Haarausfall ein Mangel vorliegt (dann steuerfrei) oder die Behandlung nur kosmetischen Zwecken dient (dann steuerpflichtig). Weil Körper und Geist nach heutigem medizinischem Verständnis eine Einheit bilden, kann der Mangel sowohl physischer als auch psychischer Natur sein.
Der BFH führt dies nun für die verschiedenen Arten von Haarausfall aus:
Da das FG Düsseldorf zuvor der Auffassung des Finanzamts folgte, hob der BFH das erstinstanzliche Urteil auf und verwies das Verfahren dorthin zurück. Das Finanzgericht muss nun prüfen, ob es bei den vom BFH aufgestellten Vermutungen bleibt oder der Facharzt diese durch weitere Nachweise erschüttern kann.
Das neue BFH-Urteil schafft gleichermaßen Klarheit und bürokratischen Aufwand für die betroffenen Ärzte bzw. Kliniken. Die Frage der Steuerbefreiung wirkt sich nämlich sowohl auf die Umsatzsteuer als auch auf die Vorsteuer aus.
Es wäre zu begrüßen gewesen, wenn sich der BFH am ICD 10 orientiert und hier eine großzügigere Auslegung vertreten hätte. Der androgenetische Haarausfall wird in der Praxis die Mehrzahl der Fälle betreffen. Diesbezüglich muss sich der BFH zum einen den Wertungswiderspruch zum Sozialrecht vorhalten lassen. Zum anderen kann androgenetischer Haarausfall auch schon in sehr jungen Jahren auftreten. Bei einem 20-Jährigen keine Behandlungsbedürftigkeit zu vermuten, verkennt die medizinische Realität. Die verfassungsrechtlich gebotene Möglichkeit zum Entkräften der Vermutung im Einzelfall ist dann zwar folgerichtig, führt aber in der Praxis doch zu einem nicht zu unterschätzenden Mehraufwand. In genau diesen Fällen zeigt sich wieder einmal das Spannungsverhältnis im Steuerrecht zwischen Einzelfallgerechtigkeit und praktischer Handhabe.
Ärzte und Kliniken, die Haartransplantationen durchführen, sollten daher folgendes beachten:
Dieser Artikel stellt keine Rechtsberatung dar und dient lediglich zu Informationszwecken.